Zweiundvierzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „Stadt anders machen“-Einwurf

Geneigte Leserinnen und Leser,

dieser Einwurf entstand ursprünglich im Rahmen meines – bislang unveröffentlichten – Corona-Manifestes. Stadtentwicklung ist mir schon länger ein Feld, dass kritische Betrachtung verdient, begonnen mit der Hausbesetzungs-Bewegung der 1980er Jahre. Es geht um die Art, zu leben – gut zu leben, miteinander zu leben, bunt und divers zu leben. Das schließt ein Recht auf (bezahlbares!) Wohnen ebenso ein wie ein Recht auf Stadt im Sinne der (Wieder-)Aneignung der Stadt als möglichst barrierefrei zugänglichen, inklusiven Ort für alle. Nicht zuletzt geht es darum, wo städtische Kultur stattfindet und wie sie öffentlich verhandelt wird. Es geht damit auch um die Rahmenbedingungen, in denen Bücher entstehen, verlegt und gedruckt, verkauft, gelesen und diskutiert werden. Kurz gesagt geht es, so wie ich auf das Thema Stadt blicke, immer auch um Fragen von Selbstbestimmung und Teilhabe, um Autonomie und Öffentlichkeit, um eine Kreativität, die nicht gleich wieder zu Verdrängungsprozessen führt (Aufwertung, Gentrifizierung). Dies wäre eine sozusagen pandemieresiliente Stadt, in der für die Bewohnenden nicht jegliche ökonomische/ soziale Krise gleich existentiell würde.

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Es ist nicht gut bestellt um die Stadt, und das Coronavirus wirkt als Katalysator für die Krise der Stadt. Das Auto, noch allgegenwärtig, nimmt dominant den öffentlichen Raum ein, was für radelnde, rollernde, spielende, zu Fuß sich bewegende Menschen ärgerlich und oft auch gefährlich ist. Sowieso, in Städten ist ohnehin immer zu wenig Platz für alles (außer shoppen), außer man ist ein Auto, und selbst dann noch. Zumal die Innenstädte sind nur noch Konsumareale, alles wirklich lebendige Leben wurde aus ihnen verbannt, überall die gleichen Ladenketten, so dass man, mit verbundenen Augen in die Stadt geführt, nicht wüsste, wo man sich gerade aufhielte. Das wird nicht schöner, wenn nun immer mehr Ladengeschäfte leer stehen – H&M will 250 Filialen in Deutschland schließen, C&A 100, Runners Point 70, Depot 60, Douglas 60, Esprit 50, Pimkie 40.

Der Leerstand wird bleiben, wenn die Geschäfte nicht wieder zu Wohnräumen umgebaut werden. Läden, die zunehmend einen Großteil ihres Umsatzes online machen, brauchen keine 1a-Lagen, ganz gleich ob Boutique, Blumenladen, Schuhgeschäft. Der Niedergang der viele Kund*innen in die Städte lockenden Großkaufhäuser wie Karstadt und Kaufhof ist im Zeitalter des Onlinehandels unaufhaltbar. Wenn das Laufpublikum ausbleibt, lohnen auch die Pizzerien und Imbissbuden nicht mehr. Fraglich ist, ob die auch im Lockdown geöffneten und daher florierenden Drogerieketten allein die Stadt beleben können, auch wenn IKEA nun City Stores plant. Regelrecht verwaist sind viele Stadtbereiche. Fitnessstudios, kulturelle und gastronomische Einrichtungen dösen vor sich hin, und es ist die Frage, wie viele davon die nächsten Monate noch überstehen werden.

Die bevorzugten Wohnlagen sind so teuer, dass dort nur noch Arzt- und Akademikerpaare und hochbezahlte Angestellte aus IT- und Werbebranche wohnen können – man bleibt unter seinesgleichen, in einigen Wohnanlagen mit Zäunen, Videokameras, Sicherheitsdiensten von der feindlichen Außenwelt abgeschirmt. Immobilienbüros preisen der zahlungskräftigen Kundschaft „Smart Citys“, vollgepfropft mit digitaler Technik, als neuen Trend an – die Vokabel „smart“ sei „mit den deutschen Übersetzungen ´intelligent, clever, geschickt, patent´ ausnahmslos positiv belegt“, so das Franchise-Immobilienunternehmen „Engel & Völkers“ in einem Mailing. Dabei ist Widerstand nötig gegen diese Tendenz. Denn hier entsteht eine potentiell totalitäre Stadtvision. Einschließung, Parzellierung, Disziplinierung und Überwachung sind hier als Bio-Macht im Foucault´schen Sinne geradezu idealtypisch miteinander verbunden. Am Ende steht die sozusagen keimfreie Stadt, zumindest in ihren touristischen Innenbezirken, während an den Rändern die Ghettoisierung und Verelendung weiter zunimmt.

In den Häuserblocks der ärmeren Bevölkerung ist es so beengt, dass hier Idealbedingungen für die Pandemien der Zukunft existieren. Die innerstädtischen Hierarchien sind schon mit verbundenen Augen zu riechen: duften im von Stadtvillen geprägten Bereich die Straßen nach Rhododendren und Rosen, vielleicht auch mal nach dem Olivenöl des italienischen Nobelrestaurants, so drängt sich andernorts eine strenge Mischung aus Industrieabgasen, Currywurst- und Dönerbuden entgegen. Frische Luft oder Feinstaub: kein Wunder, dass zwischen solchen Stadtteilen mehrere Lebensjahre an durchschnittlicher Lebenserwartung liegen. Konsumorientiert, monoton, verödet, entmischt, an den Bedürfnissen der Menschen vorbei geplant: die „Unwirtlichkeit der Städte“ (Alexander Mitscherlich), sie zeigt sich in ihrem ganzen Ausmaß erst im Angesicht der Pandemie.

Wiederaneignung der Wohnungsfrage

Der „Wohnraummangel“ ist nicht Schicksal, er ist marktgemacht. Über eine Million neuer Wohnungen könnten alleine dadurch entstehen, dass Supermärkte und Parkhäuser überbaut werden (Süddeutsche Zeitung, 27.2.2019). Das ist nicht überall möglich, teils auch baulich aufwendig und entsprechend teuer, zeigt aber großes vorhandenes Potential. Darin noch nicht eingerechnet sind seit der Pandemie leerstehende Geschäfte, innerstädtische Gewerbebrachen (alleine in Bremen wurden in den letzten Jahren mehr als eine Handvoll Areale frei, die jeweils für mehrere hundert Menschen Platz bieten) sowie jene Büroflächen, die nun frei werden, weil immer mehr Arbeitsplätze dauerhaft ins Home-Office abwandern. Dabei wird man allerdings darauf achten müssen, dass keine zu starke bauliche Verdichtung erfolgt, da dies gerade in Pandemie-Zeiten riskant ist.

Hier zeigen sich Ressourcen nicht zuletzt für Wohnprojekte und Baugenossenschaften, die selbstbestimmte, gemeinschaftliche Wohn- und Lebensformen entwickeln wollen, wie sie etwa durch das „Mietshäuser-Syndikat“ realisiert werden. Gleichwohl wird im Kapitalismus, in dem alles „Markt“ ist, die Wohnungsfrage weiter aktuell bleiben. Sie leitet sich ab aus der grundlegenden sozialen Frage. Wo sich Verarmungsprozesse verstärken – wie schon vor, verschärft nach der Corona-Pandemie -, da muss geklärt werden, wie Menschen unabhängig von ihrem Geldbeutel an bezahlbaren, guten Wohnraum kommen.

Jahrzehntelang wurden kommunale Wohnungsbestände massiv ausverkauft und privatisiert. Eine enorme Welle von Vertreibungen und Gentrifizierung ging durch die Städte. Nachdem schon Mitscherlich die Nichtteilhabe der Bevölkerung an städtischen Planungsprozessen monierte, wurden die Menschen ein weiteres Mal übergangen, indem die Stadt nun einzig nach den Renditeerwartungen der Immobilienfirmen umgekrempelt wurde. Die Nichtteilhabe hatte nicht nur unwirtliche Städte zur Folge, sondern auch reichlich unwirtliche Wohnungen. „Stay at home“, das ist nicht nur in Deutschland für viele Menschen eine ausgesprochen unerfreuliche Angelegenheit. Vielfach fehlt es Familienangehörigen am eigenen Zimmer, es ist kein Raum vorhanden, um sich auf Hausaufgaben zu konzentrieren oder sich einfach mal zurückzuziehen, es fehlen Balkone oder Terrassen, um drinnen und doch draußen sein zu können, und Singlewohnungen haben Kochnischen, die für eine warme Mahlzeit den Besuch eines Imbisses oder die Anrufung eines Bringdienstes nahelegen. Das gute Wohnen für alle, es wird niemals vom „Markt“ realisiert werden. Es ist an der Zeit für eine Re-Sozialisierung des Wohnungsbaus.

Die Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ geht öffentlichkeitswirksam in die richtige Richtung, zumal sich zeigt, dass systemimmanente Lösungsversuche wie der „Mietendeckel“ in Berlin untauglich sind – zwar kann damit ein Mietenanstieg gebremst werden, zugleich verringert sich aber auch das Angebot, da das Investieren in Wohnungen unattraktiver wird. Die 2019 initiierte, bundesweite Kampagne „Housing Action Day“ verbindet folgerichtig die Forderungen nach einer ökologische Stadtentwicklung, einer neuen Gemeinnützigkeit im Wohnungsbereich, einer Sozialisierung des Grundeigentums und einer Enteignung der großen Wohnungskonzerne. Das Berliner „Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“ stellt ähnliche Forderungen.

Verbinden könnten sich solche Ansätze mit Kampagnen für kommunale Vorkaufsrechte, mit Kampagnen für die stärkere Einbeziehung der Quartiers-Bewohner*innen in die Stadtplanungsprozesse, mit Bewegungen für selbstverwaltete Freiräume, mit Bewegungen wie „Recht auf Stadt“, die lokal etwa in Hamburg in einem Netzwerk organisiert ist und sich über die Wohnraumversorgung hinaus für eine offene, inklusive und für alle lebenswerte Stadt engagiert. Der partizipative Ansatz, den einst schon Mitscherlich forderte, spiegelt sich bei „Recht auf Stadt“ wieder, im Mittelpunkt allerdings steht der emanzipatorische Gedanke der Selbstermächtigung. Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum wird jedoch auch beim „Recht auf Stadt“ immer eine wichtige Rolle spielen. In den USA waren 2020 schon Forderungen nach „Abschaffung der Mieten“ zu hören, Mieter*innengewerkschaften sind dort aktiv, es gibt Mietstreiks (Neues Deutschland, 29.4.2020) – bei bis zu 40 Millionen drohenden Zwangsräumungen von Haushalten, die sich keine Miete mehr leisten können, (Der Spiegel, 13.8.2020) ist der Druck hoch. Hier entsteht die radikale Zukunftsvision, in der das Wohnen keine Ware mehr ist. In jedem Fall: das Wohnraum-Thema wird nach der Pandemie eher drängender.

Wiederaneignung des öffentlichen Raumes

Das zumindest temporär nicht mehr alle Bereiche der Stadt durchkommerzialisiert sind, sollte eigentlich eine Aufforderung zur Wiederaneignung des öffentlichen Raumes sein. Schließlich lassen sich Straßen, Plätze und Parks auch anders nutzen als für Café-Tische mit Verzehrzwang. Städte könnten wieder Lebensorte werden, Kulturorte, Begegnungsorte. Versammlungsorte, nach dem Vorbild der spanischen asambleas. Diese Versammlungen könnten zugleich Orte der politischen Bildung und der Willensbildung sein, schließlich gilt es herauszufinden, wie die anderen Städte denn einst aussehen sollen. Eine so verstandene Stadtplanung wäre in erster Linie eine kreativ verstandene Sozialraumgestaltung – by the way: zu wenig wird bis heute beachtet, dass die Stadt eine männliche Stadt ist, nicht nur, was die Straßennamen angeht. Leitlinie ist die männliche – im Vergleich zu Frauen deutlich autofixiertere – Mobilität, die an Männern orientierte Infrastruktur etc. Von Frauen ausgehende Planung, läuft, was Versorgungsstrukturen, Sicherheitsempfinden, soziale Bedürfnisse etc. angeht, gewissermaßen darauf hinaus, „das Dorf zurück in die Stadt zu bringen“, wie die feministische Stadtplanerin Eva Kail betont (Zeit online, 13.2.2021).

Nach einer Umfrage des Handelsverband Deutschlands für den Einzelhandel (HDE) stehen zwei Drittel der Innenstadthändler vor der Pleite (Börsenblatt, 5.1.2021). Wirtschaftsvertreter fordern zusätzliche Hilfen und Sonntagsverkäufe, dabei stehen in den entsprechenden Innenstadtlagen vielfach kapitalstarke Ketten. Auch wenn es bedauerlich ist um eine Reihe kleiner Geschäfte, die, so ist zu befürchten, als erstes aufgeben (eine Ausnahme stellt der Buchhandel dar, wo gerade die kleinen Läden mit hoher Kund*innenbindung bisher gut durch die Corona-Zeit kamen) – es entstehen durch die Aufgabe auch viele Möglichkeiten für kreative Nutzungskonzepte. Eine Rückeroberung des städtischen Raums für Menschen statt Autos scheint denkbar. „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“ (Handelsblatt, 12.10.2009) – nicht nur Autobahnbau (siehe Dannenröder Forst) ist vollkommen anachronistisch.

Der Rückbau der für Autos vorgesehenen Flächen (möglich bei attraktiven öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch aufgrund weniger Einkaufs- und Pendelverkehr in die Städte) sorgt für weiteres räumliches Potential: Platz reichlich zum Leben, Spielen, Werkeln, Plaudern. So könnte die Corona-Pandemie den Platz für verkehrspolitische Experimentierräume schaffen. In jenen Städten, die von ihren Bewohner*innen als besonders lebenswert geschätzt werden, werden schon jetzt der Fahrrad- und Fußverkehr besonders gefördert. Der Verkehrsforscher Andreas Knie spricht von einer „Befreiung der Straßen von der Dominanz des Automobils“.

„Sprengt die Fußgängerzonen“, fordert provokant Dieter Schnass (Wirtschaftswoche, 24.1.2021), und er will gleich auch noch die Brachen von Großparkplätzen und Möbelhäusern entsiegeln bzw. neu mit Wohnraum bebauen. Tatsächlich braucht kein Mensch Fußgängerzonen, wenn die Dominanz des Autos gebrochen ist. Nach den Einkaufsstraßen könnte eine Zukunft heranbrechen, in der in den Städten alles in 15 Minuten zu Fuß erreichbar ist, der Markt, der Arzt, die Apotheke, die Handwerkerin, der Nachbarschaftstreff, das soziale Zentrum, meinetwegen auch der Yoga-Raum oder die Mucki-Bude. Wer braucht da noch Autos? Sie könnten mit den Fußgängerzonen verschwinden, die, ihrem unschuldig klingenden Namen zum Trotz, reine Konsum-Zonen sind und der Einhegung der Flanierenden dienen, die nun überall Platz finden. Schnass schlägt eine städtische Mischung vor „mit Werkstätten, Büros, Cafés und personalisierten Ladenlokalen, in denen die Bürger wohnen, arbeiten und konsumieren, sich gut und gern und rund um die Uhr aufhalten“. Eine zugegeben blumige Vorstellung, in der die Frage bezahlbaren Wohnraums noch längst nicht vom Tisch ist, zumal auch der Spitzenverband der Immobilienwirtschaft einen ganz ähnlichen Mix aus Einkaufen, Arbeiten, Gastronomie, Dienstleistungen, Kunst, Kultur und Wohnen zur Rettung der Innenstädte etablieren will. Eine resiliente Stadtplanung und eine partizipative Stadtkultur sind nötig gegen die beständigen Ängste vor Ausschluss, Räumung, Vertreibung – Ängste, die nicht zuletzt dem rechten Populismus zunutze kommen.

Ergo: wem die Stadt künftig gehört, ist noch nicht entschieden. Die Rückeroberung der Stadt, durch jene, die darin wohnen, steht erst noch an. Am Ende ist es vielleicht gar nicht die neue Stadt, die da entsteht, sondern das Wiederauferstehen der alten Stadt: einer Stadt, die ein quirliger, offener, sozialer Ort ist, an dem unterschiedlichste Menschen zusammentreffen. Einer Stadt, deren Notwendigkeit sich gerade angesichts der Pandemie gezeigt hat. Einer Stadt, in der lebendige Communities eine gemeinschaftliche, wohnortnahe Sozialfürsorge ermöglichen und die so krisenresistent ist. Lebendige Nachbarschaften bieten nachbarschaftliche Unterstützungsstrukturen vor, während, nach Pandemien. Die bisherige Stadt, von Zonierungen, Vereinzelung, Wohnraummangel bzw. überfüllten, beengten Wohnquartieren und Ghettoisierungen gekennzeichnet, ist hingegen nicht zukunftsfähig.

In diesem Sinne grüßt

Der Ziegelbrenner

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