Zweiundzwanzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Liebe lesende Menschen,

ja, ich fühle mich noch in der analogen Kultur beheimatet. Da bin ich natürlich nicht unparteiisch – aber das sind die Vertreter des Digitalen ja auch nicht.

„Analog ist das neue Bio“, so ein Buchtitel (siehe die untenstehenden Buchtipps). Tatsächlich werden wieder zunehmend Polaroidfilme gekauft, analoge Spielelemente fließen in die digitale Spielewelt ein (siehe Pokemon GO). die Schallplatten-Presswerke arbeiten seit Jahren an der Auslastungsgrenze, die Welle zum handwerklichen „do it yourself“ hat eine wahre Bücherflut ausgelöst. Manche analoge Bewegung ist inzwischen durchaus trendy, anderes wird noch als versponnen belächelt – wie das eben bei Trends so ist.

Jenseits einer vermarktbaren Modehaftigkeit, in der die jeweils hegemoniale/n Mode/n immer auch ihre ebenso vermarktbaren Gegenmoden nach sich ziehen, lohnt es durchaus, sich mal ein paar Gedanken zu den gegenwärtigen Entwicklungen zu machen.

Mit Millardensummen wird an intelligenten Maschinen geforscht – doch wir brauchen keine künstliche Intelligenz (eher doch wohl eine politische Bildung, die ihren Namen verdiente, die jedoch offenkundig unerwünscht ist). Die gegenwärtige einseitige Fixierung auf Digitalisierung – beobachtbar z.B. auch im Bildungswesen – läuft auf eine „digitale Demenz“ (Manfred Spitzer) hinaus. Denn die Digitalkultur führt gleichermaßen zu Sinnesüberforderung wie auch zu voranschreitender Sinnesreduzierung. Wir brauchen Haptik (Tastsinn, wörtliches tastendes „Be-Greifen“), wir brauchen Berührungen. sensorische Vielfalt, eine „Multimodalität“. Nur über die Benutzung unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen ist komplexe menschliche Interaktion, Basis jeglichen menschlichen Zusammenlebens, möglich. Nur so wird unseren Sehnsüchten entsprochen, nur so bleiben wir aufmerksam der Welt um uns herum zugewandt, ermüden nicht so schnell. Gelingende psychische Entwicklung (was genau darunter zu verstehen wäre eröffnet natürlich ein weites Feld) und vielfältige, anregende Lernkulturen – allein mit der digitalen Monokultur ist das nicht möglich. Also, ran an die Schreibmaschine, den Federhalter, den Spaten, die Werkbank, die Geige, die Schallplatte, das gedruckte Buch! Sammelt – wie ich – Lesezeichen, schreibt Briefe! Geht zum Laden um die Ecke! Baut Röhrenverstärker! Widersetzt Euch! Nicht zuletzt sind wir vorhersehbarer und kontrollierbarer denn je, wenn wir unser Leben in der Logik der Algorithmen bewerkstelligen und der globalen „Big Data“-Maschinerie mit all ihren Kredit- und Kundenkarten zuarbeiten. Wir sollten nicht mehr länger „smart“ sein wollen – Einkaufsverhalten, Pulsfrequenz (siehe „Fitneß-Armbänder) etc. sollten Privatsache bleiben. Werden wir unberechenbar! Hinein ins analoge Leben!

Es gilt zudem, der permanenten Beschleunigung wieder eine Entschleunigung entgegenzusetzen. Statt zunehmender Effizienz, dem Druck immer mehr – möglichst gleichzeitig – in immer kürzerer Zeit „zu schaffen“ (und dabei die Welt sozial wie ökologisch zu zerstören): Genießt das Leben, besinnt Euch, guckt den Blumen beim Wachsen zu, werdet langsam. praktiziert den Müßiggang! „Slow“-Bewegungen sprießen an verschiedensten Stellen aus dem Boden, so etwa „Slow Food“ gegen die Industrialisierung & Normierung des Essens, Slow TV (Echtzeit statt immer schnellerer Schnitte), „Slow Coffee“ (gegen den hektischen „Coffee to go“), oder auch das „Slow reading“ (gegen die Entwicklung, auch immer „effektiver“ lesen zu sollen). „Slow Shopping“ im Buchladen wünsche ich mir noch, damit die Menschen sich wieder Zeit nehmen, um in Ruhe in Büchern zu stöbern. Was auch den BuchhändlerInnen immer weniger gelingt. So beklagte Christiane Hoffmeister unlängst im BuchMarkt“: „Die Zeit, mit Muße mal zuhause zu sitzen und ein Buch zu lesen, fehlt häufig“, denn man sei ständig damit beschäftigt, Social Media-Kanäle zu bedienen. Die „Slow“-Bewegungen sind dabei nichts wirklich neues, im Grunde geht es darum, sich wiedert ein lebenswertes Leben jenseits von Hektik, Zeitdruck, Burnout & sozialer Verwahrlosung anzueignen. Nötig ist eine digitale Resilienz, denn das Regime der Deadlines führt zu wachsender Entfremdung, so der Soziologie Hartmut Rosa.

Doch eine Zeitautonomie birgt aus Sicht der Herrschenden natürlich Gefahrenpotential: wer nachdenkt, merkt vielleicht, dass die gegenwärtige Welt nicht die Beste aller denkbaren Welten ist. Entsprechend ist „das Denken die einzige Tätigkeit, die sich fortwährend dafür entschuldigen muss, dass sie ausgeübt wird“ (Felix Bartels). Nicht ohne Grund werden ja z.B. in Studiengängen seit Jahrzehnten alle Studieninhalte systematisch gestrichen, die zu Reflektion anregen. So wundert es nicht, wenn die Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen, so gerade wieder in den USA mit Trump. Lassen wir uns nicht länger besinnungslos machen. Werden wir Flaneure! Denn Städte werden nur überleben, „wenn sie mehr bieten als Geschäfte, Cafés und Parkhäuser, nämlich öffentlichen Raum, das heißt Orte der Kultur, der politischen Auseinandersetzung, der Überraschung, der Begegnung mit Fremdheit“ (Walter Siebel). Desertieren wir aus unserer Reduzierung auf „Nützlichkeit“! Her mit dem schönen Leben!

Buchtipps zum Thema:

Neils Boeing: Alles auf Null – Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit (12 Euro)
Mike Evans: Vinyl – Die Magie der schwarzen Scheibe (29,95 Euro)
Tom Hodgkinson: Anleitung zum Müßiggang (8,99 Euro)
Yohan Hubert: Urban Gardening – Gemüse anbauen ohne Garten (24,90 Euro)
Veiko Kespersaks: Kalligraphie – 24 Lektionen für Einsteiger (19,99 Euro)
Cgristoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst (18 Euro)
Jörn Morisse, Felix Gebhard: Plattenkisten – Exkursionen in die Vinylkultur (24 Euro)
Carlo Petrini: Slow Food – Genießen mit Verstand (16,80 Euro)
Kathrin Radke: Ft oder Das Recht auf Faulheit (18 Euro)
Richard Reynolds: Guerilla Gardening – Ein botanisches Manifest (20 Euro)
Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (20 Euro)
Walter Siebel: Die Kultur der Stadt (18 Euro)
Manfred Spitzer: Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (12,99 Euro)
Maud Vignane, Alban Lecoanet: Einfache Palettenmöbel bauen – 18 Schritt-für-Schritt-Anleitungen mit Handsäge, Schrauber & Leim (17,95 Euro)
André Wilkens: Analog ist das neue Bio – Eine Navigationshilfe durch unsere digitale Welt (18 Euro)

Alles Titel sind noch neu im guten Buchhandel erhältlich! Und je 1 Exemplar habe ich auch noch am Lager – versendet wird (zum angegebenen Neupreis, innerhalb BRD versandkostenfrei) in der Reihenfolge der Bestellungen.

Hinweise in eigener Sache: bereits in „Abwärts!“ Nummer 12 (Januar 2016) wurde ein Kommentar von mir abgedruckt (siehe http://www.basisdruck.de/product_info.php?products_id=230), und das Musikmagazin „Folker“ brachte im November 2016 ein „Gastspiel“ von mir (www.folker.de).

Was analog so alles kann, zeigt auch die alle 2 Jahre stattfindende Mainzer Minpressenmesse – dieses Jahr vom 29. Juni bis 2. Juli. Siehe: http://www.minipresse.de/. Zuvor findet im April noch – mit Ziegelbrenner-Beteiligung – die ebenfalls zweijährliche Anarchistische Buchmese in Mannheim statt. Info: http://buchmessemannheim.blogsport.eu/.

Ja, es gibt sie noch, die guten Buchläden! Z.B. in Berlin am Prenzlauer Berg die Buchhandlung „Die Insel“ mit dem schönen Motto „Lesen ist ansteckend“ (Greifswalder Str. 41). Im selben Stadtteil macht sich die Buchhandlung „Anakoluth“ vor allem für Bücher aus kleineren Independent-Verlagen stark (Schönhauser Allee 124). Und was ist Eure Lieblingsbuchhandlung?

Es grüßt

Der Ziegelbrenner