Dreiundsechzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „Lasst uns über Kultur & Medien reden“-Einwurf

Neulich vor dem Bremer Bahnhof: es gibt eine Aktion „Öffentliches Essen für alle“. Ich freue mich. Die „Suppenengel“ sind aktiv, an langen Tischreihen wird das Essen ausgeteilt, niemand wird gefragt, ob er oder sie dafür eine Berechtigung hat. So sitzen unterschiedliche Menschen nebeneinander und können ins Gespräch kommen. Dann sehe ich Militär: ja, tatsächlich, die Bundeswehr ist, voll uniformiert, mit einer „Gulaschkanone“ da. Das Ganze ist eine einzige Imagekampagne für die bewaffneten Truppen, die ohnehin schon gefühlt an jeder zweiten Bushaltestelle offensiv werben, auf Bussen selbst auch, und in Schulen und Universitäten drängen, überall Präsenz zeigen. Erst das Hochwasser an Oder und Ahr, dann die „Hilfe“ bei der Corona-Pandemie, nun also „Essen für alle“. Unmut dagegen kann ich nicht erkennen. Wie auch: die helfen doch bloß… Ja, die Akzeptanz des Militärischen in einer Zeit, da ganz offen von „Kriegstüchtigkeit“ gesprochen wird, ist schon erschreckend. So werden die „Verteidigungsausgaben“ im Bundeshalt 2024 auf die historische Höchstmarke von 72 Milliarden Euro steigen – laut Verteidigungsminister Pistorius ist auch das zu wenig, während die Krisenprävention und die Gelder für humanitäre Hilfen gekürzt werden. Ein deutliches Signal.

Dazu passt eine Straßenszene aus Kiew: ein Mann rennt auf eine Nonne zu. „Hilfe, darf ich mich unter Deinem Gewand verstecken, die Militärs sind hinter mir her“. Im letzten Moment schlüpft der Mann unter den Rock, da rast schon ein Fahrzeug der ukrainischen Feldjäger heran – die Älteren von uns kennen diese kleinen mobilen Eingreiftruppen auch noch von der Bundeswehr, wenn sie Jagd auf Fahnenflüchtige machten. Erleichtert kriecht der Mann unter dem Rock hervor, als das Fahrzeug weg ist: „Ach, was ich noch sagen wollte, Sie haben schöne Beine“. Die Nonne antwortet: „Wenn Sie weiter hochgeschaut hätten, hätten Sie bemerkt, dass ich ein Mann bin. Ich habe auch keinen Bock, in den Krieg zu ziehen“. Ich kann den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote (Dank an Arnulf!), im Gegensatz zur Bahnhofsszene, nicht verifizieren. Ja, es wäre jedenfalls schön: stell dir vor, es ist Krieg und alle rennen weg. Denn noch braucht der Krieg eben Menschen, die ihn führen. Und es ist doch viel schöner, einen Frieden zu gewinnen anstatt eines Krieges. Die massenhafte Desertion auf allen Seiten wäre eine Abstimmung mit den Füßen: ich sage Nein! Und was ist das für ein Sieg, wenn eine Stadt die Russen stoppt, dafür aber komplett vernichtet wird (wie im Juli in Wowtschansk). Schon 2022 habe ich mit meinen zwei Mitautoren das Kriegsgeschehen kritisch kommentiert, seither ist nur noch sichtbarer geworden, dass der Krieg voraussichtlich so enden wird: es wird mehrere hunderttausend Tote gegeben haben, zwei zerstörte Ökonomien, Hunger und Elend ohne Zahl. Dabei wird der Grenzverlauf so sein, wie Anfang Februar 2022. Und das ist dann sinnvoll gewesen? Ich empfehle mein weiterhin aktuelles Buch zum Thema!

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Zwei Rezensionen beschäftigen sich mit dem von mir neu herausgegebenen Buch „Gewalt und Terror in der Revolution“ von Isaak Steinberg, im Neuen Deutschland und in der Graswurzelrevolution.

Die kommenden Neuwahlen in Deutschland werden aller Voraussicht nach zu einem deutlichen Rechtsruck führen. Das ist nur folgerichtig, denn angesichts von „Rückführungsverbesserungsgesetz“, Abschottung der Festung Europa (wer zählt noch die Todesopfer dieser Politik), schikanösen „Bezahlkarten“ für Geflüchtete (der so sichtbare Flüchtlings-Stempel wird den Rassismus weiter befördern), sozial-politischen Polarisierungen (siehe Coronavirus, Ukraine-Krieg, Israel/ Palästina, aber auch z.B. den Debatten um das „Bürgergeld“) wählen die Menschen lieber das Original. Auch über andere Politikfelder wurde in den letzten Jahres alles getan, um die Rechten regelrecht zu fördern, wie ich in meiner Broschüre zum Thema kurz & knapp darstelle. Verbote (Compact, AfD) werden ebenso wenig dazu dienen, die gerufenen Geister wieder loszuwerden wie ein zahnloser Staatsantifaschismus, der, wie Anfang 2024, zu Demos aufruft. Wir sind in einer historischen Situation, wo Demonstrieren längst nicht mehr reicht.

Die RKI-Files zeigen, in wie vielen Punkten ich mit meinen beiden Mitautoren bereits im Mai 2020 bezüglich unserer Einschätzung der Pandemie-Maßnahmen und der Kritik an diesen richtig lag. In meinem folgenden Corona-Buch ging ich auf die Folgen ein (gesellschaftliche Polarisierung, rassistische Diskurse, die Konstituierung eines „Feindbildes Jugend“ etc.). Die Bücher wurden von Linken weitgehend ignoriert (es gab auch öffentliche Anfeindungen oder Ausgrenzungen, so wurde ich noch 2024 zu Veranstaltungen zum Krieg in der Ukraine bewusst nicht eingeladen, weil Corona…). Zuspruch gab es interessanterweise von Leser*innen, die sich selbst als konservativ (oder gar als bislang „unpolitisch“) bezeichneten, da sie sich von ihrem Umfeld ausgeschlossen und im umfassenden Sinn isoliert fühlten.

Bevor ich zum Schwerpunkt komme: die Tage sind kurz, und damit auf Dunkelheit nicht der Trübsinn folgt (sowie für mögliche Verschenk-Anlässe) hier der Hinweis auf drei meiner Buchrubriken, die sich eignen, auch mal das Weihnachtsgeld zu verprassen:

Geschenktipps für viele Anlässe: gut 50 ausgewählte, schöne und inspirierende Bücher!

Signierte Bücher: fast 150 Bücher für Liebhaber/innen des besonderen, einzigartigen Buches!

Bibliothek Günter Zint: unter weit über 1.000 Artikeln findet ihr Raritäten wie z.B. signierte Originalfotografien, Bildbände und anderes mehr!

Nun aber zum Schwerpunktthema dieses Einwurfs: was gibts Neues aus der Kultur- und Medienwelt?

Die Printzeitungen befinden sich in der Krise. Die Auflagen brechen ein (von insgesamt 27 Millionen verkauften Ausgaben in Deutschland noch 1991 auf 11 Millionen im Jahr 2023), die „taz“ will ganz von der Printfassung Abschied nehmen. Auch hier werden wir womöglich erst im Nachhinein wieder bemerken, was fehlt, wenn es verschwunden ist. Denn bei all meiner Kritik an der Einseitigkeit von Medien, die alle das Gleiche wiederkäuen (wie ich sie in meinen o.g. Publikationen formulierte): die Zeitung war noch ein quasi öffentliches Medium. Am WG-Tisch wurde über das Gelesene debattiert, auch physisch, über die ausgehängten Exemplare am Kiosk oder – ja, so etwas gab es einst! – Zeitungsverkäufer*innen in Kneipen, waren Zeitungen präsent. Nun mag man die Papierersparnis bejubeln (wenn man den enormen Energieverbrauch digitaler Medien ignoriert), aber es ist doch so, dass Nachrichten nun etwas Privates geworden sind, wenn alle nur noch auf ihren Smartphones herumwischen. Und statt miteinander zu reden nur noch „teilen“. Die Folgen kann man sehen: die „neuen Medien“ befördern ständige Erregung, immer knappere Statements – die der Komplexität der Themen nicht ansatzweise gerecht werden, es macht sich ein aggressiver Tonfall breit, Hass und Populismus werden gefördert. Ja, das hat „Bild“ auch gekonnt, aber jenseits davon existierte eben noch etwas, das den Namen Debattenkultur durchaus verdiente. Zudem ist das Textverständnis am Smarthone schlechter als in gedruckten Medien. Nicht ohne Grund kehrt Schweden ein Vorreiter in Sachen Digitalisierung, in den Schulen wieder zur Verwendung klassischer Schulbücher zurück.

Auch Printmagazine haben es immer schwerer. Die Ausgabe 144 des hessischen „Literaturboten“ hatte den – im Nachhinein ironischen – Schwerpunkt „Realitätsverweigerung“. Mit der Nummer 145 wurde das Magazin eingestellt. Die Herausgeber begründen dies mit Kostengründen, äußern aber auch deutlich, dass diese Entwicklung eine größere ist, da viele Zeitschriften bedroht oder schon eingestellt sind.

Fatal angesichts des Erstarkens der Rechten ist, dass Kulturformate seit Jahren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer stärker an den Rand gedrängt oder ganz aus dem Programm genommen werden. Mehr noch, nun soll es ganzen Sendern an den Kragen gehen: „Nach den Plänen der Rundfunkkommission der Bundesländer sollen mindestens 16 ARD-Hörfunkkanäle und knapp die Hälfte der zehn Fernseh-Spartensender von ARD und ZDF eingestellt werden. Welche dies sind, steht noch nicht fest. Eine Bestandsgarantie gibt es nur für den Kindersender KiKA und das Internet-Angebot funk. Im Bereich Kultur soll nur noch eines der beiden Programme, 3sat oder Arte, erhalten bleiben“ (SWR aktuell, 25.10.2024). Die ohnehin arg bedrohte mediale Meinungsvielfalt wird also weiter eingeengt. Gekürzt werden sollen auch die Gelder für die Produktion von Hörspielen, die vielfach gesellschaftliche, aktuelle Themen aufarbeiten und die insofern ebenfalls ein wichtiger Bestandteil politisch-kultureller Bildung sind. Eine Initiative „Pro Hörspiel“ sammelt Unterschriften gegen diese Pläne.

Wie aber steht es überhaupt um das Lesen bei der jüngeren Generation? Ein Schlüssel zum Lesen ist offenkundig das Vorlesen. Doch der Vorlesemonitor 2024 zeigt, dass jedes dritte Kind nicht vorgelesen bekommt – ein wichtiger Zugang zu gedruckten Büchern fehlt dadurch, eine stärkere Leseförderung von der Kita an wäre also wichtig. Dennoch ist der Stellenwert von Büchern bei den bis 19jährigen hoch und bemerkenswert stabil. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Studie vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Gegenüber 2019 haben die Buchkäufe in dieser Altersgruppe zugelegt. Und das gedruckte Buch ist in allen Altersgruppen und unabhängig von der Selbstnutzung oder dem Vorlesen mit Abstand das am meisten genutzte Format. 97 Prozent der 10- bis 19-Jährigen sowie 96 Prozent der 20- bis 29-Jährigen lesen Bücher gedruckt, ebooks haben an der Begeisterung für das gedruckte Buch also wenig geändert. Darüber ist zwar noch nichts über die inhaltliche Bandbreite des Gelesenen gesagt. Da aber die Grenzen zwischen den Genres verschwimmen und junge Menschen längst nicht mehr nur Jugendbücher lesen und Bücher auch in dieser Altersgruppe zur Auseinandersetzung mit politischen Themen genutzt werden (auch dies ist der Studie zu entnehmen), ist hier Kulturpessimismus vielleicht fehl am Platz.

Medien wie TikTok sind übrigens oft der Auslöser, sich für ein Buch zu interessieren. Verblüffend sind hier die Studien aus den USA und der Schweiz, nach denen sich rund die Hälfte der befragten jungen Menschen wünscht, die sozialen Medien wären nie erfunden worden. Die Erkenntnis, dass die Welt ohne die „sozialen Medien“ (die ich seit Jahren nicht ohne Grund a-sozial nenne) eine sozialere wäre, scheint zu wachsen. Schon Friedrich Nietzsche bemerkte: „Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennenlernen“ (1878 in seinem Buch „Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister). 150 Jahre später haben Datenautobahnen die Beschleunigung potenziert, und immer mehr unterschiedliche Medienformaten buhlen um Aufmerksamkeit und führen doch nur zu Zerstreuung. Irgendwo aber scheint eben genau für diese problematische Entwicklung noch ein kritisches Bewusstsein zu existieren.

Wie gesagt, vielleicht verstehen wir erst, was verloren geht, wenn es verschwunden ist. Fast jedenfalls. Nicht nur die Schallplatte erlebte eine Renaissance, sogar die Audio-Kassette erlebt dies seit einiger Zeit. Und vielleicht wird man sich eines Tages auch wieder auf Zeitungen besinnen… Für das Buch wenigstens gibt es noch Hoffnung.

In der aktuellen politischen Situation sind auch die Einsparungen in den Kulturetats des Bundes und der Länder verheerend. So schrumpfen die Mittel des Bundeskulturfonds von 32 Millionen auf 18 Millionen Euro, eigentlich angesichts des Bundeshaushalts Peanuts, doch braucht es eben jeden Euro für die Kriegstüchtigkeit. Besonders von den Kürzungen betroffen ist die sogenannte „freie Szene“, unabhängige Kunst- und Theaterprojekte, die immer besonders innovativ waren und Impulse auch für eine wichtige – nicht nur kulturpolitische – Debattenkultur setzten. Der Etat für Soziokultur soll mit einer Kürzung auf 2,9 Millionen Euro für 2025 fast halbiert werden. Eine Folge ist laut dem Fond Soziokultur u.a.: „Verstärkung gesellschaftlicher Spaltung: Gesellschaftliche Ausgrenzung und kulturelle Benachteiligung verstärkt sich gerade dort, wo es ohnehin kaum Angebote gibt. Insbesondere junge und ältere, nicht mobile oder ohnehin marginalisierte Menschen können noch schlechter an Kultur und Gesellschaft teilhaben und mitwirken. Sie fühlen sich noch mehr abgehängt“.

Kulturelle Freiheit ist stets gefährdet. In den USA machen sich „Book Bans“ breit. Bücher sind in den Vereinigten Staaten einem massiven Angriff ausgesetzt. Für das Schuljahr 2023-2024 hat PEN Amerika insgesamt mehr als 10.000 Bücherverbote an öffentlichen Schulen gezählt. Und überall sind es die Bücher, die seit langem um einen Platz im Regal gekämpft haben, die zur Zielscheibe werden. Bücher von farbigen Autoren, von LGBTQ+-Autoren, von Frauen. Bücher über Rassismus, Sexualität, Geschlecht und Geschichte. Die Verbote werden auf Bundesstaatenebene ausgesprochen, die Bücher sind also nicht in den gesamten USA zensiert. Besonders tun sich hier Florida, Wisconsin und Texas hervor. Das Phänomen ist nicht – anders, als man vielleicht erwarten könnte – identisch mit dem evangelikalen Bible Belt, zu dem Wisconsin nicht gehört (wohl aber Arkansas, Mississippi und Alabama, Staaten, in denen bisher noch keine Book Bans ausgesprochen wurden).

Was gibt es sonst noch?

Bremen lohnt immer einen Ausflug. Ich empfehle die aktuelle Kirchner-Ausstellung in der Kunsthalle. Neben Kirchners Holzschnitten sind drei durch die Holzschnittkunst inspirierte künstlerische Positionen der Gegenwart zu sehen. Die dort zu sehende, nein zu erlebende beeindruckende Holzschnitt-Rauminstallation von Thomas Kilpper ist zugleich ein eindrucksvolles Statement bezüglich dessen, was heute eine politisch relevante Kunst sein könnte.

Noch bis 31.1.2025 ist in Berlin die Ausstellung „Die Verleugneten“ zu sehen, die ein Signal gegen die Hierarchisierung von NS-Opfern setzen will. Denn von den Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ stigmatisierte Menschen sind in Deutschland erst seit 2020 als NS-Opfer anerkannt – eine späte Rehabilitierung, die dann wohl so spät kam, dass sie allenfalls noch eine Handvoll Menschen erlebten.

Volkslieder haben in Deutschland ja einen schlechten Ruf, oder hatten dies wenigstens, bis zur fragwürdigen Schlager-Renaissance. Dabei gibt es viel zu entdecken, viel unterdrücktes Liedgut vor allem, wie Wolfgang Steinitz schon vor Jahrzehnten dokumentierte. „Die Grenzgänger“ wollen dieses verdrängte und vergessene Liedgut nun in einem etwas größenwahnsinnig anmutenden Projekt wieder hörbar machen und freuen sich über Unterstützung.

Das Deutschlandticket wird teurer. Und vom 9-Euro-Ticket redet niemand mehr. Niemand? Es gibt eine kleine, unbeugsame Initiative, die die Mobilität für alle fordert und Menschen, die sich diese Teilhabe nicht leisten können, das „erhöhte Entgelt wegen Fahrleistungserschleichung“ zahlt.

In diesem Sinne: lebt & lest!

Der Ziegelbrenner

www.ziegelbrenner.com

info@ziegelbrenner.com

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