Filippi Francesco

Mussolini hat Gutes getan? – Abrechnung mit einem Mythos

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Beschreibung

Die Vergangenheit in Italien ist noch lange nicht vergangen. Eine systematische institutionelle Aufarbeitung des Faschismus blieb in nach 1945 Italien aus, eine wirkliche „Stunde Null“ gab es nie. Ironie der Geschichte: Italien hat eine antifaschistische Verfassung, und die Gründung faschistischer Parteien ist darin verboten – eigentlich, denn schon 1946 gründete sich die neofaschistische MSI, die in den 1990ern auch schonmal den Christdemokrat*innen zur Mehrheitsbeschaffung diente.Bis heute wird Mussolini vielfach verehrt. In unzähligen Haushalten hängen Mussolini-Kalender, Kunstartikel-Geschäfte bieten bis heute Mussolini-Büsten an, obwohl die Verherrlichung des Faschismus seit 2017 gesetzlich verboten ist – nach 1952 und 1997 der dritte Versuch, den Mussolini-Kult durch Verbote in den Griff zu bekommen, und erfolglos wie die bisherigen. Und ausgerechnet 100 Jahre nach dem Aufstieg des Faschismus schickt sich eine rechtsextreme Partei 2022 an, unter Giorgia Meloni – die eine neofaschistische Vergangenheit hat an und sich bis heute nicht von Mussolini distanziert – nach der Macht zu greifen. Die „Brüder Italiens“, extremer noch als die „Lega Nord“, arbeiten mit erkennbarer faschistischer Ästhetik – kosmetische Korrekturen werden derzeit diskutiert, wirken aber wenig glaubwürdig. Meloni selbst versucht sich reinzuwaschen, so habe sie sich „nie rassistisch geäußert“, doch räumt sie ein, sie habe „ein unbeschwertes Verhältnis zum Faschismus“ (Der Spiegel 32/ 2021). Meloni ist eben „rhetorisch äußerst flexibel“ (Jens Renner, WOZ, 1.7.2021). So wirkt es wenig überzeugend, wenn sich Meloni nun mit proamerikanischen Äußerungen und der Forderung nach Waffen an die Ukraine zu Wort meldet. Und die Bürger*innen steuerlich entlasten (vorgeblich ein weiteres ihrer Anliegen) – nun, ähnliches versprach schon Mussolini. In weiten Teilen der Gesellschaft hat sich eine positive Bewertung der Mussolini-Jahre erhalten. Nur ein Beispiel ist der damalige EU-Präsident Antonio Tajani, der 2019 betonte, Mussolini habe „einige positive Dinge getan“, man müsse „objektiv“ werten. Filippi geht in seinem Buch diesen vermeintlichen Erfolgserzählungen nach. Die Faschisten hätten die Sümpfe trockengelegt, heißt es etwa, und das Regime habe neue Städte gebaut und so die Wohnungsversorgung entscheidend verbessert (auch die Idee eines umfassenden Wohnungsbauprogrammes hat das NS-Regime von Mussolini übernommen). Ohnehin wird der Faschismus in Italien gerne als „soziale Bewegung“ gewertet, die dahin geführt hätte, dass es den „einfachen Leuten“ besser ging und die Renten stiegen. Die Züge fuhren pünktlicher, und Autobahnen – ja, auch hier was Mussolini ein Vorbild für den Nationalsozialismus – habe man gebaut. Es sei eben nicht alles schlecht gewesen. Doch jede einzige dieser Erzählungen zerpflückt Filippi regelrecht, auf akribische Weise. Das glorreiche neue italienische Imperium unter Mussolini entpuppt sich als das, was es war: eine Reihe blutiger und überaus erfolgloser Kolonialkriege, die im Übrigen dazu führten, dass das Land finanziell ausblutete (S. 90). Etwas ausführlicher und strukturierter hätte man sich allerdings die Ausführungen zum italienischen – auch von den Nazis übernommenen – Autarkiekurs gewünscht. Differenziert fällt Filippis Urteil über Mussolini als vermeintlichen Beschützer der Juden aus. Filippi weiß, dass Rassismus und Antisemitismus weit älter sind als die faschistischen Bewegungen. Zunächst habe Mussolini dem NS-Regime die italienische jüdische Bevölkerung zwar nicht ausliefern wollen – dies jedoch nicht aus ethischen oder humanitären Gründen, sondern aus machtpolitischem Kalkül. Auch in Italien gab es seit 1938 Rassengesetze (S. 124), doch war die Stoßrichtung beim Bestreben einer „rassischen Reinheit“ Italiens in erster Linie die Vertreibung, nicht die systematische Vernichtung. Dies hätte Filippi stärker betonen müssen, denn der Holocaust durch den deutschen Nationalsozialismus ist ein singuläres Verbrechen. Ab 1943 knickte Mussolini ein: rund 10.000 italienische Jüd*innen kamen in deutschen Konzentrationslagern um. Mussolini hat also eine klare Verantwortung für zugtausendfachen Judenmord. Weitaus höher noch sind die Todeszahlen, die Mussolini durch seine Kolonialkriege und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. Bismarcks Sozialgesetze allerdings als „wirkliche soziale Revolution“ zu betrachten (S. 27), ohne auf den angestrebten Hintergrund einzugehen – die angestrebte Schwächung sozialistischer Bestrebungen -, ist sehr problematisch. Und wenn schon erwähnt wird, dass Amintore Fanfani nach 1945 sozialreformerisch agierte und den sozialen Wohnungsbau dann tatsächlich forcierte (S. 56), so muss doch gesagt werden, dass er während des Faschismus hinter Mussolini stand und namentlich dessen Kolonialpolitik unterstützte. Der Fokus auf die Mythen trägt dazu bei, dass die institutionellen Kontinuitäten zu kurz kommen. Zwar erwähnt Filippi die faschistische Geheimpolizei OVRA (S. 71), die übrigens Vorbild für die Gestapo war, nicht jedoch, dass viele der ehemaligen OVRA-Offiziere unter dem sozialistischen Innenminister Romita vereits 1945 in den Dienst des Informationsdienstes SIS übernommen wurden. Auch führt Filippis Schwerpunktsetzung dazu, dass zu wenig über die soziale, ökonomische und politische Struktur Italiens vor dem „Marsch auf Rom“ zu erfahren ist, also die Rahmenbedingungen, unter denen sich der Faschismus erst entwickelte. Das ist Filippi nur bedingt anzukreiden – sein Hauptaugenmerk liegt woanders -, doch hätte ein einleitendes Kapitel zu den spezifischen gesellschaftlichen Hintergründen auch Verweise auf die Virulenz der heutigen Mythen geben können. Ich denke dabei beispielsweise an die enorme soziale Ungleichheit im Land, die stark agrarisch geprägte Gesellschaft, die noch Elemente eines Entwicklungslandes enthielt – Faktoren, vor denen Mussolini bis heute als „Modernisierer“ gilt, dem es um eine soziale Gerechtigkeit ging. Filippis Buch ist motiviert worden durch die Gefahr der Wiederholung von Geschichte. Diese Gefahr ist in der Tat immens. Faschismus, Holocaust, Kolonialismus sind nicht vergangen, sondern sehr gegenwärtig. Rechte Parteien verschieben immer mehr die Grenze des „Sagbaren“, den Tabubruch, und spielen sich dabei, nicht zuletzt im Zuge der Corona-Pandemie, als „Freiheitskämpfer“ auf. Überhaupt scheint mir die Corona-Pandemie hier verhängnisvoll: Angst und Panik, gezielt geschürt, sind alles andere als gute Ratgeber, und sie machen empfänglich für einfache, manipulative, vermeintlich rettende Botschaften, wie sie von Verschwörungsaposteln, aber – auch in Italien – ebenso von rechten Gruppen gezielt verbreitet werden. Die von Mussolini geschürten Ressentiments gegen Machteliten, das Establishment, Korruption, unmoralisches Verhalten etc. – Filippi nennt einige Beispiele – wirken bis heute. Francesco Filippi zeigt, dass die gezielte Geschichtspolitik – betrieben schon von Mussolini, aber auch bis heute von seinen Anhänger*innen – über „Fake News“ hinausreicht, da sie die Erinnerungen färbt und das Bild der Vergangenheit verklären. So kommt diese Aufklärung zur richtigen Zeit. Denn die Gefahr der Wiederholung steigt, in Italien sichtbar an den jüngsten Wahlprognosen.

Zusätzliche Information

Gewicht 600 g
Zustand

159 S., kart.

Autor

Erscheinungsort

Bodenburg

Erscheinungsjahr

2022

ISBN/ISSN-Nummer

978-3-86841-278-9

Verlag