Fünfundfünfzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „Buch und Welt“-Einwurf

Liebe Einwurf-Lesende,

Antimilitarismus wird zu Zeiten des Krieges in der Ukraine diffamiert und verhöhnt. Schon vor gut einem Jahr sprach Sascha Lobo von „Lumpenpazifisten“. Meine Antwort darauf erschien ein Jahr später, doch sie ist noch immer aktuell. Wie antimilitaristische Positionen diffamiert werden, konnte ich unlängst beim anarchistischen Treffen im schweizerischen Saint-Imier erleben, wo antimilitaristische Plakate abgehängt und der Kampf in Uniform – für einen Staat – verklärt wurde. Mein eigener Vortrag wurde in der Presse vollkommen verzerrt. Immerhin, in Saint-Imier gab es auch eine internationale anarchistische Buchmesse, über 90 Verlage und Organisationen waren vertreten, das zumindest war sehr beeindruckend, ebenso die insgesamt sehr gute Organisation und die gute Atmosphäre im Ort.

Es wird eben nicht gern gesehen, wenn man sich nicht mit Haut und Haaren auf eine Seite schlägt. Derweil nimmt die Verehrung des ukrainischen Präsidenten im deutschsprachigen Raum geradezu kultische Dimensionen an. So bekam er nun den „Karlspreis“ verliehen, der für die „Verteidigung europäischer Werte“ stehen soll. Was für Werte das nun sein könnten, die da in der Ukraine verteidigt werden, wird in meinem nächsten Buch zu lesen sein (es erscheint ca. im November). Mehr dazu im nächsten Einwurf.

Nie wurden so viele Bücher vernichtet wie derzeit, schon im letzten „Einwurf“ hatte ich dies thematisiert. Und damit meine ich nicht nur die immer massiveren christlich intendierten Buchverbote, etwa bei Titeln, die vermeintlich „obszön“ oder „sexuell anstößig“ sind und/ oder LGBTIQ-Themen behandeln, so in Osteuropa oder den USA (dazu weiter unten noch mehr). Mehrere Millionen russischer Bücher – sowie Bücher russischer Autor*innen – wurden in der Ukraine aus den Bibliotheken entsorgt. Zu den „europäischen Werten“ gehört ohnehin nicht die Pressefreiheit, da stehen einige europäische Staaten deutlich hinter unter anderem etlichen afrikanischen Staaten, und die Ukraine rangiert noch hinter Ungarn.

Die Buchvernichtung macht aber auch vor deutschenUniversitäten nicht halt. So hat der Bibliotheks-Informations-Service der Universität Oldenburg sein Lager aufgelöst – und ganz offensichtlich dabei auch alle Restbestände vernichtet. Offizielle bestätigt ist das nicht – auf entsprechende Nachfragen bekam ich nur ausweichende Antworten. Immer wieder erlebe ich auch, wie insbesondere Kleinverlage beispielsweise bei Umzügen massenhaft Bücher entsorgen – oft entsorgen müssen, aufgrund der Lagersituation, angesichts steigender Mieten etc.

Mein Bücherlager hingegen existiert noch – nach dem Umzug letztes Jahr ist es allerdings nicht mehr zu besichtigen, da ich niemandem zumuten (und auch das Risiko nicht tragen) mag, in 3,70 Metern Höhe herumzukramen. Ironischerweise bekam ich in den letzten Monaten vermehrt Anfragen nach einer Bücherlager-Besichtigung. Deshalb an dieser Stelle nochmal der Hinweis: dies ist nun leider nicht mehr möglich.

Manche Bücher werden schlicht überschätzt. So ist „Noch wach???“ von Benjamin Stuckrad-Barre ein gefeiertes Werk, um das sich ein wahrer Medienrummel dreht (wohl auch, weil er als „Schlüsselroman“ rund um den Axel Springer Verlag & „Bild“ gilt); ein Bestseller, der auf der #metoo-Welle reitet, sich aber inhaltlich wenig originell an Werke schreibender Frauen dranhängt – die eben nicht so prominent wie Stuckrad-Barre sind. Der Erfolg des Buches ist daher ein „Schlag ins Gesicht aller schreibenden Frauen, die sich seit so langer Zeit mit diesem Themen beschäftigen“, wie es die Autorin Mareike Fallwickl in einem Interview mit dem „Stern“ äußerte. Entsprechend bietet mein Shop etliche Klassiker der feministischen Literatur und nicht zuletzt der allzu oft vergessenen Frauengeschichte. Schaut rein, ein Blick lohnt sich!

Totgesagte leben länger. Der klassische Reiseführer sei ein „Auslaufmodell“, so der Reisebuch-Verleger Michael Müller. Ist das so? Bei einer Reise durch Marokko war der gedruckte „Lonely Planet“ uns ein ganz wunderbarer Begleiter, der nicht erst angeschaltet werden musste (damals hatte noch nicht jede/r zig „Apps“ auf dem Smartphone, und dieses „damals“ ist noch nicht lange her), und der keinen Strom brauchte. Vor allem war er zuverlässig – was man nicht von allen Infos im Netz so sagen kann. E-books scheinen auch keine Alternative, sie dümpeln bei 5, 6% Marktanteil vor sich hin. Doch Rettung naht: „Der gedruckte Reiseführer wird wieder cool“ – so jedenfalls die Zürcher Zeitung. Ich hoffe nur, dass Design und Inhalt dabei wirklich zusammen gehen und nicht das eine dem anderen geopfert wird (von wegen „verändertes Leseverhalten“, was mich immer an die Frage erinnert: was war zuerst da, Huhn oder Ei – wobei die Wissenschaft dazu unlängst eine überraschende Antwort fand).

Wo kauft man am besten Reiseführer – in Buchläden natürlich! Denn die unterschiedlichen Reisebuchverlage haben durchaus unterschiedliche Konzepte und Schwerpunktsetzungen, die man am besten erkennt, wenn man die Bücher in den eigenen Händen direkt vergleichen kann. Einmal mehr ein klarer Punktsieg für den stationären Buchhandel, meine ich.

Apropos: es gibt sie noch, die guten Buchhandlungen. Zum Beispiel in Delbrück in Nordrhein-Westfalen – das als Hinweis für diejenigen, die den Städtenamen noch nie gehört haben. Dort tut sich aber durchaus Innovatives: Inhaberin Sarah Lübbers hat bei „Magic Books“ (Lange Str. 20) nämlich den Anspruch, eine wirklich barrierefreie Buchhandlung zu gestalten. Reiseführer gibt es dort weniger, der Schwerpunkt liegt eher bei Fantasy & Manga.

Der Ort Tegernsee am gleichnamigen See ist eigentlich eher ein Dorf. Nun hat der Ort wieder einen Buchladen, mit einer interessanten Geschichte: Inhaber Valentin Weimer will mit seinem „Kaufhaus des Guten“ (Kadegu) eine soziale Alternative zu Amazon & Co. aufbauen, natürlich im Netz. Nun kehrt er mit einem Laden vom Digitalen wieder ins Analoge zurück. „Kadegu“ (Seestr. 16) wird von Anke Staudacher geleitet, sie liest besonders gern Bücher von Zeruya Shalev oder Haruki Murakami. „Bei den Klassikern ist mir Stefan Zweig der liebste und Schiller mag ich mehr als Goethe“, verrät sie.

Nur gut 20 Kilometer sind es vom Tegernsee nach Bad Tölz, einem Städtchen, das gerade einmal halb so gross ist wie etwa Delbrück (wenn auch vermutlich bekannter). Doch gleich 3 Buchläden gibt es dort. Hervorheben möchte ich „Winzerer“ (Obere Marktstr. 61), dort gibt es Literatur aus aller Welt, Comics & Graphic Novels, Kinder- & Jugendbücher, Reiseliteratur, aber auch Jazz & Weltmusik. Die Inhaberin Petra Schenk will dabei vor allem auch kleineren, unabhängigen Verlagen ein Forum bieten. Da die wenigsten Kleinverlage von ihrer Tätigkeit leben können (und hier oft die spannendsten Entdeckungen zu machen sind), ist das sehr löblich.

Bleiben wir in Bayern: als ich in den 1990er Jahren u.a. für die Zeitschrift „Lesbenstich“ den Vertrieb machte, gab es noch an die 50 Frauenbuchläden im deutschsprachigen Raum. Seither ist deren Netz deutlich löchriger geworden. Immerhin gelang es jetzt nach langen Bemühungen doch noch, einNachfolgeteam für den seit Mitte des Jahres geschlossenen Frauenbuchladen „Lillemors“ in München (Barerstr. 70)– bis dahin der älteste deutsche Frauenbuchladen – zu finden. Der Name wird sich ändern, ab Oktober ist das neue Team am Start – mit weiterhin feministischem Schwerpunkt.

Ein anderer Laden wird leider aufgegeben: die „Buchkönigin“ in Berlin (Hobrechtstr. 65) hört auf, zum 1.9. ist Schluss, und bisher ist noch keine Nachfolge gefunden. Nina Wehner hat den 2010 eröffneten Laden mit viel Herzblut, Energie und guten Ideen betrieben. Unabhängige Verlage, mit viel Kompetenz ausgewählte gute Kinderbücher und politische Sachbücher bildeten das eigenständige, wirklich überzeugende Profil. Nun wurde die Buchkönigin müde, wie sie sagte – wenig erstaunlich angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen, in denen sich derartige Buchläden heute bewegen.

Was gibt es sonst noch?

Ach, die Post. Es ist oft nicht einfach, an die Bücher, die ich (nach-)bestelle – zumeist im Auftrag der Kundschaft – auch heran zu kommen. Jedenfalls macht es die Post einem nicht leicht. Ein Beispiel: Ich habe einen Ablagevertrag mit der Post/ DHL, der jedoch häufiger ignoriert wird, vermutlich wenn Routen geändert, Urlaubsvertretungen eingesetzt werden o.ä. In diesem Fall – und bei Einschreiben, nachzuverzollenden Sendungen an mich o.ä. – landen diese Sendungen nicht bei einer Abholstelle (und schon gar nicht bei der nächstgelegenen!), sondern bei verschiedenen (zumal, wenn dann auch noch verschiedene Zustellunternehmen ins Spiel kommen, die das alle eh mit einem Ablagevertrag nicht checken). Das Zustellungspersonal selbst hat dabei NULL Handlungsspielraum, das ist komplett an die Herrschaft der Maschinen abgegeben (Digitalisierung eben, siehe unten), so dass sich an diesem Irrsinn rein gar nichts ändern lässt. Wenn ich selbst ein paar Tage abwesend war kann es mir daher passieren, dass ich ganze Nachmittage damit verbringe, die Päckchen einzusammeln (Warteschlangen inklusive). Wer zahlt mir diesen unnötigen Aufwand, den ich auf locker 50 Stunden pro Jahr veranschlage?

Aufgrund der Olympischen Sommerspiele 2024 werden die berühmten „Bouquinisten“ mit ihren Bücherständen an der Seine vertrieben – zumindest temporär. Zwar will die Stadt ein „Bouquinisten-Dorf“ organisieren und auch den Umzug bezahlen. Die Bouquinisten wollen jedoch auf ihre oft schon seit Jahrzehnten bestehenden Stammplätze nicht verzichten und haben angekündigt, sich zu wehren.

Buchläden im US-Bundesstaat Texas sollen Bücher mit „sexuell relevantem“ oder „sexuell explizitem“ Inhalt mit Warnhinweisen versehen. Schuler*innen sollen diese Bücher nur lesen dürfen, wenn die Eltern zustimmen. Und Buchläden, die diese Kennzeichnung nicht vornehmen, sollen nicht mehr mit Schulen zusammenarbeiten dürfen.

Generell nimmt in den USA die Zahl der Zensuranträge in den letzten Jahren stark zu. Im Visier stehen die öffentlichen Bibliotheken: eine Rekordzahl von 2.571 Titeln wurde 2022 der Zensur unterworfen, ein Anstieg von 38 % gegenüber den 1.858 Titeln, die 2021 der Zensur unterworfen wurden, wie die American Library Association mitteilte. Die große Mehrheit dieser Titel wurde von oder über Mitglieder der LGBTQIA+-Gemeinschaft und People of Color geschrieben. Doch auch Shakespeare soll zensiert werden.

Die Digitalisierung schreitet voran. Immer mehr Dinge gehen nur noch per „App“. Wer beispielsweise versucht hat, für eine soziale Einrichtung – deren Bewohner*innen nur temporär dort ihren Wohnsitz haben – das „Deutschland-Ticket“ zu bekommen (und für die Abrechnung darüber auch noch Zahlungsbelege zu erhalten) weiß, das „digital“ nicht einfacher bedeutet. Sehnsüchtig denke ich an das 9-Euro-Ticket zurück… Auch der „Kulturpass“, mit dem 18jährige einen einmaligen Bonus für die Nutzung kultureller Angebote bekommen, ist an den Besitz eines Smartphones gebunden: um sich das virtuelle Budget von 200 Euro zu sichern, benötigen Nutzerinnen und Nutzer die KulturPass-App.

Digitalisierung, das heißt auch Algorithmen, Rankings, Bewertungs-Tools etc. – wer in der digitalen Welt mit Büchern handeln will trifft auf Intransparenz pur. „Als Händler haben Sie bei Amazon nur Pflichten und absolut keine Rechte“, so der Antiquar Wolfgang Rüger in der „Frankfurter Rundschau“. Zugespitzt formuliert Rüger: „Ich bin Sklave von Jeff Bezos“. Rüger hat mit Blick auf täglich wechselnde, automatisch generierte Buchpreise á la 1,57 Euro jedoch auch einen Tipp für Menschen, die seriöse Buchanbieter suchen: „Kaufen Sie bei Firmen mit geraden Buchpreisen“.

Rügers kulturpolitisches Resümee kann ich nur unterstreichen: „Das Buch ist die größte Errungenschaft des Menschen. Wir Antiquare sind die Letzten, die aufheben. Wir halten das gesamte Wissen der Menschheit vorrätig“. In dergeschichtslosen Internet-Ära wird der Schatz dieses Wissens nicht begriffen, der Wert dieses kulturellen Gedächtnisses nicht wahrgenommen. Welche Folgen die gegenwärtige Besinnungslosigkeit mit sich bringt, zeigt indessen ein täglicher Blick in die Medien.

Doch noch gibt es sie, die gedruckten Bücher. Samt Veranstaltungen drum herum, man kann fast schon von einer Festivalisierung sprechen. So meldete die diesjährige, elfte „LIT:potsdam“ einen Rekordbesuch. Wobei das Buch natürlich nicht spektakulär gefeiert, sondern vor allem im Alltag präsent sein und gelesen werden will. Hinweisen möchte ich dennoch auf zwei Veranstaltungen, nämlich die „Lange Nacht der Literatur“ in Hamburg und die sich zeitlich damit überschneidende „Büchermeile“ in Bremen, die von der dortigen Buchhandlung Storm organisiert wird. Schließen möchte ich mit den Worten von Helene Hanff, die eine schöne Liebeserklärung an das Buch und insbesondere die Buchhandlungen sind: „Wenn du zufällig an der Buchhandlung vorbeikommst, küsst du sie für mich? Ich verdanke ihr so viel“.

In diesem Sinne: lebt & lest!

Der Ziegelbrenner

www.ziegelbrenner.com

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PS: wie immer darf auch dieser Einwurf gerne weitergeleitet werden. Bitte Belege bzw. Links zukommen lassen, merci!