Sechzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „Hoffnung! Stirbt! Zuletzt!“-Einwurf

Neulich im Zeitschriftenregal eines Supermarktes: ganz oben die Autozeitschriften und Heimwerkblätter, darunter (die Zielgruppe ist eben kleiner) Gartenzeitschriften die sogenannten Frauenzeitschriften, in denen Heino in dutzendfacher Ausfertigung seine Verblichene betrauern darf. Noch weiter unten leuchtet ein Alptraum in Pink: rosa ist eindeutig für Mädchen (und hier die Zeitschriften, die sie ansprechen sollen) belegt – in welchem Jahrhundert leben wireigentlich? Babyrosa, bonbonrosa, blassrosa. Zart, sanft, niedlich, unschuldig, so die – zumindest heutzutage in Mitteleuropa – damit einhergehenden Assoziationen. Ein Geschlecht, so lieblich und süß wie Zuckerwatte? Lillifeerosa. Prinzessinnen und Einhörner…

Das war mal anders. Ein führendes Frauenmagazin schrieb in den USA 1918: „Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und Blau für die Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt, während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen hübscher aussieht“. Auch wenn sich hier die (Farb-)Verhältnisse buchstäblich umkehrten – normativ ist es so oder so. Und es hat Folgen, wie Almut Schnerring in ihrem lesenswerten, im Kunstmann Verlag erschienenen Buch „Die Rosa-Hellblau-Falle“ nachweist (wer keinen Buchladen in der Nähe hat: ich schicke das Buch natürlich gerne zu). „Frauensenf und rosa Überraschungseier, Piratenkekse und Chips für den ´Männerabend´ – das Warenangebot setzt zunehmend auf Geschlechtertrennung und erweckt so den Eindruck, als lebten süße Glitzerprinzessinnen und abenteuerlustige Monster-Fighter in unterschiedlichen Welten. Haben wir die traditionellen Geschlechterrollen nicht längst überwunden?“ fragte schon 2014 der Deutschlandfunk in einem Feature. Besser geworden ist das nicht. Rosa-Hellblau contra queer – reaktionäre Rückwärtsgewandtheit als Abwehrbewegung? Gibt es noch Hoffnung für das Aufbrechen des rigiden und einengenden Geschlechter-Dualismus?

Nirgendwo sonst ist die Geschlechterteilung so offensichtlich wie im Krieg. Krieg und Patriarchat, das gehört zusammen. Nicht zuletzt deshalb weise ich nachdrücklich auf mein neuestes Buch zum Krieg in der Ukraine hin. Am 18.4. stelle ich dieses Buch in Wien vor, am 10.5. in Mannheim. In Mannheim werde ich auf der Anarchistischen Buchmesse auch mit einem großen Bücherstand vertreten sein, an dem in die hier angebotenen Bücher hineingelesen werden kann. Der 10.5. ist übrigens auch der Geburtstag des 1919 von der Reaktion liquidierten Antimilitaristen Eugen Leviné.

Die Buchhandlung im Volkshaus in Zürich hat mein Lumpen-Buch auf seine Empfehlungsliste der besten Bücher im März 2024 gesetzt. Und Peter Nowak hat dieses Buch rezensiert: „Der Autor wirft auch ein Schlaglicht auf die Situation in der Ukraine als Labor des Neoliberalismus und auf die rechte Traditionspflege in dem Land. Es ist gut, dass Grüneklee in einem eigenen Kapitel auch auf die Rechten in Russland eingeht. Denn natürlich hat der anarchistische Autor keinerlei Sympathie mit dem autoritären Putin-Regime“.

„Es gibt kein christliches Blut, kein jüdisches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut, und wir müssen die Menschen respektieren“, so die 102jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar 2024. Sie äußerte diese Überzeugung sinngemäss schon mehrfach. Wenn wir ihn nicht endlich beherzigen, werden wir dazu verdammt sein, Mord & Totschlag & millionenfaches Elend immer wieder neu zu durchleiden, das Blut der einen dabei das Blut der anderen rächend, eine Spirale ohne Ende – es gibt nur einen Ausweg: endlich laut & deutlich & millionenfach „Nein!“ zu sagen zu dieser mörderischen Logik. Mit den Worten von Boris Vian (1966): „Verweigert Krieg, Gewehr/ Verweigert Waffentragen/ Ihr müsst schon etwas wagen/ Verweigert´s Militär“.

Klar ist, wer die Zeche zahlt für die Kriege: nicht nur in Großbritannien ist der Diebstahl von Brot & Babynahrung etc. längst zur Überlebenspraxis geworden (siehe den Bericht im Weltspiegel vom 17.3.), und die Zahl derjenigen, die ihr Dasein mit dem systematischen Sammeln von Pfandflaschen absichern müssen, hat in Deutschland die Millionengrenze überschritten. Die Bevölkerung soll darben und frieren für den Krieg: bis zum 31.1.2024 hat die Ukraine allein von Deutschland bisher direkte Waffenlieferungen in Höhe von über 17 Milliarden Euro erhalten, und ein Ende ist nicht absehbar, im Gegenteil: „Seit Mitte Januar überbieten sich Deutschland, Großbritannien und Frankreich förmlich mit neu angekündigten Waffen-Paketen für die ukrainischen Streitkräfte“ (Frankfurter Rundschau, 18.1.2024). Das Streiken aber können „wir“ uns in diesen Kriegszeiten nicht leisten, so der olivgrüne Wirtschaftsminister Habeck.

Michael Bakunin meinte sicher nicht die militärischen Verheerungen – ein sinnbildliches, zutreffendes Wort! -, als er meinte, „die Lust an der Zerstörung ist eine schaffende Lust“. Ihm ging es nicht um staatliche Gewaltapparate, die das in Schutt & Asche legen, was kapitalistische Konzerne wieder aufbauen, um dann ungebrochen weiterzumachen bzw. erneut loszulegen mit den Zerstörungen von Kapital, Gewalt & Krieg. Ihm ging es um einen Neuaufbau, der seinen Namen verdient – eine schöpferische Welt, die nicht auf Herrschaft & Ausbeutung basiert, sondern auf Freiheit & Gemeinsinn. Diese Utopie ist bis heute uneingelöst, was nicht bedeutet, dass sie nicht möglich wäre. Sie ist sogar nötig – die Alternative ist der Untergang der Menschheit auf der Erde.

Immerhin: zunehmend verweigern sich Menschen, Hunderttausende flüchteten vor Militärdienst in Russland und der Ukraine, mit allen Mitteln (in der Ukraine derzeit ein Trend: die Heirat von Pflegebedürftigen, sie befreit vor dem Kriegseinsatz). Eine Verweigerung mit den Füßen – vielleicht gibt es noch Hoffnung. Auch in Deutschland bröckelt die ideologische Front: eine Mehrheit ist gegen die Lieferung der Taurus-Raketen an die Ukraine (lediglich die Sympathisierenden der olivgrünen Partei sind mehrheitlich für die Lieferung und damit eine weitere Konflikteskalation).

Militärapparate sind antihumanistisch, das ist nicht nur der olivgrünen Partei, die doch eine moralische Politik zu machen behauptet, immer wieder ins Stammbuch zu schreiben. Der Mensch in Waffen wird zur Bestie, gedrillt auf das Töten. Wenn wir uns dieser Logik nicht entziehen, müssen wir uns über die Erfolge des Faschismus nicht wundern. Militarismus und Faschismus sind Brüder im Geiste, darüber darf der Umstand, dass sich die AfD nun als Friedenspartei inszeniert (den freien Raum nutzend, da es eine solche ansonsten in den letzten zwei Jahren nicht sichtbar war) nicht hinwegtäuschen. Und der größte Feind des Faschismus ist der Humanismus.

Der Reduktionismus der rosa-hellblauen Welt (Mädchen/ Jungen, gut/ schlecht, Freund/ Feind, Leitkultur/ Fremde…) spielt den Rechten bestens in die Hände. Nach rund 1.400 Demonstrationen mit rund 3,8 Millionen Menschen gegen die Rückführungspläne der Rechten ist zu fragen, was nun kommt. Demos allein sind es nicht, schon deshalb nicht, weil auf vielen politischen und gesellschaftlichen Ebenen in den letzten Jahren alles dafür getan wurde, die Rechten zu stärken. Dies illustriert meine in ihrer ursprünglichen Form bereits im November 2023 online publizierte und nun erweitert in gedruckter Form vorgelegte Schrift „Wie man den Faschismus fördert – Eine Anleitung in 15 Schritten“.

Ein Beispiel für die Koalitionspolitik, wie die AfD sie liebt, sind die schikanösen Bezahlkarten für Asylbewerber*innen: Diskriminierung und Abschreckung – letzteres allerdings wird nicht funktionieren, das Kalkül auf abschreckende Wirkung basiert lediglich auf der irrigen (falschen, populistischen) Annahme, Menschen würden leichtfertig die Heimat verlassen, um in Deutschland ein lässiges – gar „faules“, womöglich „kriminelles“! – Leben auf Kosten der Steuerzahlenden zu führen. Mit anderen Worten: in diesem Gesetz offenbart sich einmal mehr, wie weit die Parteien der „bürgerlichen Mitte“ rechte Ideologien selbst verinnerlicht haben und die rechten „Argumente“ reproduzieren. Das gilt auch auf EU-Ebene: so werden Rettungseinsätze im Mittelmeer u.a. dadurch torpediert, dass mehrere Rettungsfahrten hintereinander – ohne jeweils zwischendurch einen Hafen anzulaufen – verboten sind (apropos, zivilgesellschaftliche Organisationen wie Sea-Watch brauchen dringend finanzielle Unterstützung!). Gegen dieses zynische (in diesem Fall italienische) Gesetz auf dem Rücken von Menschenleben hat kein EU-Regierungspolitiker bisher interveniert. Was unterscheidet solche Politik eigentlich noch von Faschismus?

In diesem Zusammenhang ist auf Leo Löwenthals auch heute noch sehr lesenswertes Buch „Falsche Propheten“ zu verweisen. Nach Löwenthal ist u.a. die „geschlossene Gesellschaft“ (Corona!) ein Ziel rechter (Sozial-)Politik. Ein Ärgernis bei diesem Buch ist das bräsige Nachwort von Carolin Emcke, die verblendet von Christian Drosten, Karl Lauterbach & Co. die psychischen Folgen und sozialen Zerwürfnisse autoritärer und ausschließender Pandemiepolitik nicht zu erkennen vermag, die erst den Raum geöffnet haben dafür, dass sich die Rechten plötzlich als Freunde der Freiheit inszenieren konnten. Mit anderen Worten: es waren und sind die Phrasendrescher der gesellschaftlichen Mitte, die mit ihrem Stakkato immergleicher, als „wissenschaftlich“ verbrämter „Wahrheiten“ (darin gerade jeden Wissenschaftsanspruch über Bord werfend!) einen „solidarischen“ Konsens autoritär einfordern, der es den populistischen rechten Verführern ermöglicht, sich als scheinbar einzig verbliebene Alternative darzustellen. So sind die Rechten derzeit keine „Naturkatastrophe“, sondern Resultat der Politik der letzten Jahre. Hier könnte man einiges aus der Vor- und Frühgeschichte faschistischer Bewegungen lernen, gerade wenn man Löwenthal auf die Gegenwart anzuwenden versucht – ein Bemühen, dem sich Emcke nicht ansatzweise unterzieht.

Ein Buchhinweis in eigener Sache (mit Vorwort von mir und im eigenen Verlag erschienen): das nun neu aufgelegte Buch „Gewalt und Terror in der Revolution – Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der russischen Revolution“ von Isaak N. Steinberg erschien zuletzt vor 50 Jahren im Karin Kramer Verlag. Dass es damals einen Bedarf gab, hing mit der Entwicklung der „68er“ zusammen: Anfang der 1970er Jahre spaltete sich diese Bewegung zunehmend in diverse kommunistische Gruppierungen („K-Gruppen“) auf. Die antiautoritären Fraktionen betrachteten das Buch seinerzeit als wichtiges Argumentationsmaterial gegen diese zunehmenden autoritären Tendenzen und diskutierten das Buch intensiv. Doch auch angesichts der derzeitigen epidemischen Ausbreitung autoritärer Denkweisen und autoritär-populistischer gesellschaftlicher wie politischer Strömungen, einschließlich zunehmender Militarisierung der Köpfe („Zeitenwende“) bietet das Buch wichtiges Grundlagenmaterial zur Frage der Gewalt in Politik und Revolution. Nicht zuletzt ist die russische Revolution ein Ereignis, das bis heute im russischen Denken und im politischen Handeln virulent ist und insofern eben auch das heutige Geschehen mit erklärt.

Aufmerksamkeit verdient auch meine Broschüre „Wieder den Impfzwang“. Zwar wurde die 2022 diskutierte Impfpflicht nicht auf allgemeiner Ebene umgesetzt, wohl aber berufsbezogen. Es ist eine späte Bestätigung: die nur auf Druck herausgegebenen (und an Hunderten von Stellen geschwärzten) „RKI-Files“ offenbaren, das Privilegien für Geimpfte (3G) „fachlich nicht begründbar und nicht sinnvoll“ waren. Dennoch wurde enormer Druck ausgeübt, wurden „Ungeimpfte“ Hass und regelrechten Vernichtungsphantasien ausgesetzt, was ich damals schon kritisierte. Das allerdings nun eine offene Aufarbeitung der Pandemiepolitik stattfindet, ist nicht zu erwarten, ich habe diesbezüglich keine Hoffnungen. Die Medien und Milieus der Impflinge diskreditieren in bester bzw. schlechtester Fortführung der damaligen Diffamierungen und Verleumdungen stattdessen das Magazin, das überhaupt erst die Herausgabe der geheimgehaltenen Papiere vor Gericht erstritt. Es mag besserwisserisch rüberkommen, doch ich gehörte zu den ersten – und leider zu wenigen! -, die aus linker Perspektive von Beginn an die Pandemie-Maßnahmen hinterfragten und kritisierten, wie schon das von mir bereits im Mai 2020 mitverfasste Buch „Corona und die Demokratie“ belegt.

Mehr Hoffnung macht eine andere, durchaus spannende Entwicklung: auch in Deutschland verbinden sich in der letzten Zeit häufiger die Kämpfe sozialer Bewegungen mit Arbeitskämpfen. „Umweltschutz ohne Klassenkampf ist Gärtnern“, so der 1988 von einem Großgrundbesitzer erschossene brasilianische Umweltaktivist Chico Mendes. In Bremen war zu beobachten, dass Angestellte des öffentlichen Personennahverkehrs mit „Fridays for Future“ zusammen auf die Straße gingen. Lange genug wurden Klimaschutz und Arbeitskämpfe erfolgreich gegeneinander ausgespielt – von wegen: Klimaschutz gefährdet Arbeitsplätze und macht Mieten unbezahlbar (dabei ist längst erwiesen, dass Klimaschutz Arbeitsplätze schafft, und steigende Preise hängen in erster Linie mit Profitinteressen und der Wohnungspolitik zusammen). Erfreulich ist, dass sich die Proteste der Landwirt*innen weltweit intensivieren und teils miteinander vernetzen. In Indien solidarisierten sich Millionen von Arbeiter*innen mit den entschlossenen und massiven Bauernprotesten.

Zwar hat man in Deutschland aus durchsichtigen Motiven die bäuerliche Protestbewegung nach Kräften als rechtes Projekt zu diffamieren versucht. Tatsächlich versuchten dort auch Rechte, zu mobilisieren, aber es gab eben auch klare antifaschistische Statements vieler Landwirt*innen). Doch diese Taktik kann nicht verschleiern, dass die Landwirt*innen in der Zange sind von ökonomischen Problemen (Sterben kleiner Betriebe, Großbetriebe bevorzugende Subventionen, Saatgutmonopole, Überschuldung, Preisdruck, massive und ständig zunehmende Bürokratisierung…), mafiösen Interessenvertretungen und Lobbyisten und ökologischen Erfordernissen, Tatsächlich ist eine nachhaltige Landschaft praktizierter Natur- und Umweltschutz – eben diese Landwirtschaft „rechnet“ sich aufgrund der globalen Agrarindustrie, in der multinationale Konzerne das Geschehen bestimmen, und der EU-Agrarpolitik aber nicht. Neu ist das nicht (siehe die schon vor rund 45 Jahren publizierten, kapitalismuskritischen Bauern-Karikaturen), doch lange gab es (zu) wenig Widerstand. Damit der Agrarwiderstand sich nicht in Identitätspolitik erschöpft – kräftige Männer im blauen Overall mit riesigen Maschinen, da ist wieder diese rosa-hellblau-Falle! -, müssen sich die Kämpfe um die bäuerlichen Betriebe mit denen für Klima- und Umweltschutz sowie für globale Ernährungssicherheit und jenen gegen Freihandel, Deregulierung und Gen-/ Bio-Technologien verbinden. Es geht um weit mehr als Besitzstandswahrung – wenngleich das längst noch nicht allen Akteur*innen selbst bewusst ist. Hier hätte eine Linke anzusetzen, sofern es diese noch gibt – anstatt im Chor der Schmähungen und Pauschalverdächtigungen mitzukrakeelen. Das geschieht bisher erst ansatzweise. Doch die Zukunft ist noch nicht geschrieben.

Indessen, bei allem Elend dieser Welt wundere ich mich doch, wenn ich gefragt werde, warum ich so „pessimistisch“ sei. Tatsächlich versuche ich, realistisch zu sein. Eine andere Haltung scheint mir unmöglich, anders denken kann nur wer die Realität verdrängt – eine (manchmal lebenspraktische, doch wohl auch fragwürdige) Gabe, über die ich nicht verfüge. Pessimismus ist der Antipode von Optimismus, und optimistisch kann nur sein, wer die Realität verleugnet oder sich schönredet; wer sich im Grunde aus der Welt schleicht: es sind die Optimisten, die Positiven, die die Welt gefährden. Die Welt ist nicht rosa. Auch nicht rosablau.

Aber Realismus bedeutet nicht, keine Hoffnung zu haben. Ganz ohne Hoffnung würde ich meine Texte vermutlich nicht schreiben. Zugleich ist die Isolierung mit derzeit offenkundig vollkommen minoritären Ansichten, die keinerlei Einfluss auf das Weltgeschehen haben, schwer auszuhalten. Ich erlebe viel Verzweiflung, gerade bei Älteren. Manche ziehen sich nun verzweifelt zurück, vereinsamen, werden krank, haben Suizid-Gedanken. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass es jeden Tag dunkel wird, doch wir erschrecken, wenn die Nacht kommt“ meinte ein gut 70jähriger Anarchist letztens zu mir. Vielleicht muss man tatsächlich etwas naiv sein, um heute noch Hoffnung haben zu können. Der italienische Philosoph Toni Negri, 90jährig im Jahr 2023 verstorben und politisch aktiv bis zuletzt, äußerte einmal: „Der Frühling wird zurückkehren, und er wird eine wahre Jahreszeit des Neuen sein. Denn während der Faschismus immer derselbe ist, ist der Frühling der Freiheit immer neu, immer anders, immer voller Geschenke“ – Worte der Hoffnung.

Doch im Nationalsozialismus bedeutete das zu lange währende Hoffen für Tausende jüdischer Menschen den Tod, und heute gibt es in manchen Bereichen nichts mehr zu hoffen. Die Klimakatastrophe wird kommen – schon seit Jahren bin ich der Überzeugung, dass die Grenzen von 1,5 oder 2 Grad angesichts der globalen Ökonomie und der dahinter stehenden Interessen vollkommen unrealistisch sind (und wurde darum einmal mehr des „Pessimismus“ bezichtigt). Aber Hoffnung kann ein Anker sein, um aktiv bleiben zu können, überleben zu können. „Es geht darum, das Hoffen zu lernen“, so der Philosoph Ernst Bloch in seinem vielzitierten Buch „Das Prinzip Hoffnung“. Hoffnung als Motor: es geht um das Weitermachen. Und um das Anders-machen. Mit den Worten von Rebecca Solnit: „Hoffen heißt schlicht, dass eine andere Welt möglich sein könnte, dafür gibt es jedoch kein Versprechen, keine Garantie. Das Hoffen ruft uns zum Handeln auf; wir können überhaupt nicht handeln, ohne zu hoffen“ (übersetzt von Matthias Festerer, Oya-Almanach 2024, S. 15). Hannes Wader soll gesagt haben: „Wenn die Feigheit und Dummheit der Vielen nicht auszurotten ist, ist es der Mut, die Vernunft und die Menschlichkeit der Weinigen auch nicht“. Auch das macht Hoffnung. Es braucht das hoffende Handeln mehr denn je – im Kampf gegen Militarismus & Faschismus & für eine Klimagerechtigkeit, die wenigstens die ärgsten Auswüchse der kommenden Katastrophe abfedert. Die Zeit für das Handeln ist JETZT.

Die Hoffnung im Angesicht multipler Krisen (man spricht inzwischen auch von einer „Polykrise“), sie ist auch ein Grundtenor in Ilija Trojanows neuestem Buch. Trojanow widmet sich hier mit Hingabe der Aufgabe, die doch Sache jeder guten Literatur wäre: die Grenzen des Denkbaren auszuloten, das Bestehende zu hinterfragen und nach einer anderen Welt zu greifen: utopisch und humanistisch zu sein, im besten Sinn.

Es gibt noch Hoffnung. Solange noch solche Bücher erscheinen – und gelesen werden. Es gibt sie noch, die guten Nachrichten, etwa aus der Buchbranche. Die Leipziger Buchmesse war ein Erfolg, mit vielen spannenden, auch politischen, Veranstaltungen in der Stadt – eine wahre Publikumsmesse eben. Und es gibt sie noch, die guten Buchläden. Rund 70 davon habe ich im Laufe der Jahre in den „Einwürfen“ bisher vorgestellt, von Basel über Kathmandu bis Zwolle, mit Schwerpunkt auf den deutschsprachigen Raum. Ich freue mich immer wieder über Tipps!

Hoffen tue ich auch für den „Raben Ralf“, eine engagierte Umweltzeitung, die weiterhin Unterstützung braucht, um bestehen bleiben zu können.

Was fehlt? Zu schreiben wäre hier noch über die Lage im Nahen Osten – es würde den Umfang dieses Einwurfs sprengen. Es wäre ein kritischer Blick auf die Digitalisierung und „künstliche Intelligenz“ zu werfen – ein Thema, das mehr Alptraum als Hoffnung in sich trägt, bis hin zur totalen Überwachung. Doch ich weiß, dass ich mich bereits jetzt hart am Rande des Umfangs bewege (oder diesen schon krass überschreite), in dem Menschen bereit sind, Texte am Bildschirm zu lesen. Mir bleibt nur, auf die nächsten Einwürfe zu vertrösten.

In diesem Sinne: lebt & lest!