Achtundfünfzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „F*ck Zeitenwende!“-Einwurf

Liebe Einwurf-Lesende,

zunächst einmal alles Gute für das neue Jahr!

Wobei, seit 2020 denke ich, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Und werde immer wieder enttäuscht. Wir befinden uns in einer sozialen und politischen „Zeitenwende“. Wie sehr, das illustriert schon das Cover meines frisch erschienenen Buches „Nur Lumpen werden überleben – Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive“. Kauft, lest, diskutiert dieses Buch! Bildet antimilitaristische Lesekreise & Aktionsgruppen! Es ist hier erhältlich.

Das dem Buchcover zugrunde liegende Plakat der Grünen ist im Bundestagswahlkampf 1983 verwendet worden, und mit eben diesem friedenspolitischen Wahlkampf kamen die Grünen erstmals (mit 5,6%) in den deutschen Bundestag. Danach stellten die Grünen eine Große Anfrage im Bundestag, ob Atomwaffen mit dem Völkerrecht vereinbar seien. Der Grünen-Abgeordnete Joseph („Joschka“) Fischer nahm im selben Jahr an einer Blockade der US-Militärbasis in Frankfurt am Main teil, um gegen den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss und die Raketenstationierungen auf deutschem Boden zu demonstrieren – derselbe Fischer, der Ende 2023 neue Atomwaffen für Europa fordert. Motto der CDU im damaligen Wahlkampf: „Arbeit, Frieden, Zukunft – Miteinander schaffen wir´s“. Es lag also Frieden in der Luft (was die CDU nicht davon abhielt, dann für den NATO-Doppelbeschluss zu stimmen).

Nun sind die Verhältnisse andere, wie mein Buch deutlich macht. Das Buch versucht sich dabei nicht in Politikberatung, sondern es nimmt die Perspektive der sozialen Bewegungen ein und ist konsequent antimilitaristisch. Denn jeder nationale Krieg ist zuerst ein Krieg gegen die Armen, er ist ökologisch verheerend, und immer neue Waffenlieferungen machen die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer. Ein streitbares Buch sicher, aber aus guten Gründen: eine blindwütige Selenskyj-Unterstützung gibt es ja schon, dafür braucht es kein neues Buch – wobei ich in meinem Buch schon benenne, was nach Redaktionsschluss auch Vitali Klitschko an Selenskyj kritisiert, nämlich dass dieser Putin immer ähnlicher wird. Der Übergang zum offenen Terrorismus ist längst fließend, wenn sich die Ukraine etwa zum Mord an missliebigen ukrainischen Politikern auf russischem Boden (zuletzt Ilja Kywa) bekennt, ohne dass dies in Deutschland auch nur eine Empörung zur Folge hätte.

Mein Buch zeigt, dass die Ukraine eine neoliberale Politik reinsten Wassers macht, die nicht ohne Grund in der Ukraine selbst umstritten ist. Der Bevölkerung, deren „Selbstverteidigung“ doch immer wieder als Kriegszweck ausgegeben wird, werden, unterhalb des oberen Prozent, die Existenzgrundlagen abgegraben. Das heißt nicht, den russischen Angriffskrieg zu rechtfertigen (reichlich Neonazis gibt es auf beiden Seiten). Eine Russophobie allerdings unterschlägt, dass es in Russland reichlich Menschen gibt, die sich aktiv gegen Putins Regime und den Krieg engagieren. Sich gegen immer weitere Waffeneinsätze auszusprechen heißt auch nicht, die Ukraine wehrlos auszuliefern: das Buch weist auch auf das Erbe gewaltfreier Bewegungen hin, die ein breites Aktionsrepertoire zur Verfügung haben. Kurzum, das Buch ist ein entschiedenes Statement mit vielen Argumenten: gegen den Krieg, gegen die Zeitenwende! Sagt Nein! Desertiert! Unterstützt Desertierende!

Der Kabarettist Arnulf Rating merkte in seinem letzten Weihnachtsgruss an, dass man früher bei einer Zeitenwende wenigstens noch den Messias erwartete. Heute steht da Olaf Scholz (und A. Baerbock mit ihrer grün-liberalen PanzerfreundInnen-Bande)…

Die Zeitenwende mit ihrer globalen Renaissance von Nationalismus, Staatlichkeit und Autoritarismus hat dabei vor allem eines zur Folge, wie man in Deutschland gerade überdeutlich sehen kann: sie stärkt die Rechten, deren ureigenstes Terrain diese politischen Prämissen sind. Siehe zum Thema auch meinen Beitrag dazu, wie man den Faschismus fördert – der Text zeigt, dass es viel zu kurz greift, sich allein an der AfD abzuarbeiten. Bereits die Diskursanalysen von Heinz Lynen von Berg, Siegfried Jäger und anderen zu Beginn der 1990er Jahre zeigten, dass der Rechtsextremismus längst in der „politischen Mitte“ angekommen ist.

Heute sind wir ja geneigt, eine Organisierung der Welt in Staaten und in der Folge auch die Idee der Nation (und des Nationalismus) als etwas „Natürliches“ anzusehen. Das dem nicht so ist, zeigt das gerade in diesen Zeiten höchst lesenswerte Buch „Die Erfindung der Nation“, das hervorragende Nachhilfe in Geschichte bietet. Über das reichhaltige Spektrum egalitärer, staatenloser Gesellschaften – im Sinne einer Art „regulierter Anarchie“ – forschte und publizierte der Soziologe Christian Sigrist.

Die Staatlichkeit zeigt sich vom Augenblick ihrer Entstehung an vor allem durch die Ausweitung des Militärischen. Ich weise in diesem Zusammenhang auf mein Buchangebot zum Antimilitarismus hin. Besonders hervorheben will ich – angesichts der ernsthaften gegenwärtigen Planungen für einen Gedenktag an „gefallene“ Soldaten in Deutschland den kritischen Band der großartigen Schriftstellerin Gudrun Pausewang zum „Heldengedenken“:  Was verstand man früher unter einem Helden? Wer galt während der Hitlerdiktatur als Held? Im Zweiten Weltkrieg, der die Hälfte der NS-Zeit massiv beeinflusste, drehte sich das „Heldengedenken“ vor allem um Gefallene, also um tote Helden. Außerdem verband man – auch schon früher – den Begriff „Held“ mit Krieg. Deshalb wird hier gleichzeitig mit der Fragwürdigkeit rein männlichen Heldentums und militärischen Heldengedenkens massiv auf die Menschenunwürdigkeit und die Unlogik des Krieges hingewiesen. Natürlich wird auch gezeigt, was man heute unter Heldenverehrung und Heldengedenken versteht. Angesichts der zunehmenden Akzeptanz von Militarismus und „Helden“-Heroisierung bis weit in das anarchistische Spektrum hinein (vgl. Krieg in der Ukraine – auf einem internationalen anarchistischen Kongress in Saint-Imier hingen 2023 gerahmte Porträts anarchistischer „Gefallener“, antimilitaristische Plakate hingegen wurden abgerissen) ein wichtiger, ja notwendiger Band gegen diese Helden-Verklärung!

Vor dem Hintergrund dieser „Zeitenwende“ weise ich besonders auf einige „Klassiker“ hin, die schon vor gut 100 Jahren den Militarismus kritisierten und diesem die Vision einer herrschaftsfreien, pazifistischen Gesellschaft entgegenstellten. Zu nennen wären etwa Gustav Landauer, Bertha von Suttner, Leo Tolstoi, Heinrich Vogeler und Arthur Lehning.

Die „Zeitenwende“ ist nicht als Naturkatastrophe vom Himmel gefallen sie hat eine Vorgeschichte: zusammen mit Clemens Heni und Peter Nowak habe ich bereits im April/Mai 2020 auf die Gefahren des grassierenden Autoritarismus hingewiesen, nicht zuletzt auch darauf, wie dies den Rechten in die Hände spielt. Ausgerechnet im verfassungsschutznahen Jahrbuch „Extremismus & Demokratie“ erhielt unser Buch eine – teilweise – Würdigung: im Rahmen einer Sammelrezension: „Die überwiegend kurzen Beiträge sind verbunden durch einen prononciert linken Anti-Etatismus und eine kritische Haltung aller Autoren gegenüber dem eigenen politischen Lager, dem sie vielerlei Fehler und versäumte Chancen im Umgang mit der Corona-Pandemie vorwerfen… Wenngleich dieses Buch keinen wirklich fundierten Beitrag zur akademischen Debatte leistet, vermag es diese doch auf zumindest zweierlei Art zu befruchten. Einesteils bietet es eine Fülle von empirischem Material etwa für diskursanalytische oder wissenssoziologische Studien zur politischen Diskussion rund um die Corona-Krise. Es liefert einen weiteren instruktiven Einblick in Argumentationslinien und Denkweisen in innerlinken Diskussionen. Andernteils liegt in seiner fundamentalkritischen Perspektive ein Erkenntnispotenzial: Weil die nüchterne Abwägung der Sachverhalte die Sache der Autoren nicht ist, arbeiten sie in kompromissloser Klarheit vielerlei Missstände heraus, die sonst gleichsam von der Differenzierung verschleiert zu werden drohten“ (Baden-Baden 2021, S. 279f.). Hinzuzufügen wäre, dass wir den vermissten wissenschaftlichen Anspruch auch gar nicht formuliert haben – das Buch entstand, als erste linke kritische Stellungnahme zur staatlichen Corona-Politik überhaupt, als Intervention in die Verhältnisse.

Ein Charakteristikum der Zeitenwende ist die Polarisierung der Diskurse, ein simplifizierendes Schwarz-Weiss-Denken, das eigentlich eine Domäne der Rechten ist und nach dem dann der Freund meines Feindes auch mein Feind sein muss. In der Logik dieses Primates der Sippenhaft werden alle, die um differenzierende Töne bemüht sind, diffamiert, ausgegrenzt und schlimmstenfalls ihrer materiellen Existenzgrundlagen beraubt. Wir kennen das seit der Corona-Pandemie, in der, in schlechtester nazistischer Tradition, Ungeimpfte mit Ungeziefer gleichgesetzt und so entmenschlicht wurden. Zu sehen ist dies derzeit auch im Israel-Gaza-Krieg. Wechselseitig wirft man sich einen Genozid vor – darunter geht es seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine nicht mehr, und dort war der Vorwurf ebenso falsch wie heute. Denn Genozid bedeutet, dass man eine gesamte Bevölkerungsgruppe gezielt vernichten will. Ein Genozid ist also ein Völkermord, ein Ausrottungskrieg, und bei allen mörderischen Brutalitäten der gegenwärtigen Kriege ist dies weder in der Ukraine noch im Nahen Osten derzeit der Fall. Die russisch-jüdisch-amerikanische Schriftstellerin Masha Gessen sitzt schon mit ihrer Herkunft zwischen allen Stühlen. Mit dem Vergleich des Gaza-Streifens mit einem Nazi-Ghetto provozierte sie die grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung so sehr, dass diese sich von der Verleihung des Hanna-Arendt-Preises an Gessen zurückzog. „In Deutschland herrscht eine Kultur des Silencing, des Mundtot-Machens, eine Verengung der politischen Diskussion“, kritisiert Gessen.

Hinweisen möchte ich auf den „Packpapier Verlag“, der seit Jahrzehnten nicht zuletzt die Fahne der Friedensbewegung hochhält und in Kooperation mit dem auch mein bisher letztes Buch zum Corona-Thema erschien. Derzeit ist dieser Verlag allerdings existentiell stark bedroht, nicht zuletzt aufgrund privater Animositäten, wie er in einer Hausmitteilung betont, wobei sich hier einmal mehr zeigt, dass das Private eben stets auch politisch ist.

Die „Zeitenwende“ wird auch genutzt für eine massive Ausweitung der Sicherheits- und Überwachungstechnologien. Das reicht von der forcierten Digitalisierung der Medien – was die Möglichkeiten von Desinformation und Propaganda potenziert – über ein digitalisiertes Gesundheitswesen und Gesichtsscanner im öffentlichen Bereich bis zum Einsatz der künstlichen Intelligenz in neuen („autonomen“) Waffensystemen. Die gesellschaftliche Stimmung scheint dafür günstig, nachdem man gerade in den letzten Jahren massiv Ängste als Mittel der Politik einsetzte – Ängste vor Zuwanderung, vor Seuchen, vor kriegerischen Angriffen (nur dort, wo die Gefahren alle Menschen am massivsten treffen werden, soll der Mensch keine Ängste haben: vor dem Klimawandel). Im Alltag wirkten diese Technologien vielfach im Hintergrund und wurden, wenn überhaupt wahrgenommen, heruntergespielt („ich habe doch nichts zu verbergen“). Inzwischen greifen die Folgen einer bis zum „Digitalzwang“ ausgeweiteten Digitalisierung jedoch immer stärker in die Alltagswelt ein. „Ohne Smartphone keine Speisekarte, ohne App kein Paket, ohne E-Mail keine Fahrkarte, ohne Account kein Arzttermin, Feuerwehr rufen nur noch per Online-Formular“, so brachte der Verein „Digitalcourage“ die Entwicklung auf den Punkt. Es ist kein Zufall, dass dieser Verein, der wichtige Arbeit leistet, derzeit einen starken Spendenrückgang wahrnimmt. Spenden sind dringend nötig, hier zur Website.

Mit Überwachungstechnologien wird die Militarisierung der Außengrenzen und so die Abschottung der EU vor dem Rest der Welt verstärkt. Traurig aktuell bleibt damit der Stoff des Buches von B. Traven, „Das Totenschiff“, in dem gezeigt wird, dass der Mensch ohne („richtigen“) Pass im Grunde kein Mensch mehr ist, da ihm faktisch das Existenzrecht verwehrt wird. Das Leben eines Menschen ohne Papiere wurde hier in Gestalt eines Seemanns, der auf einem dem Untergang geweihten Schrottschiff anheuert, dargestellt. Anlässlich der Neuausgabe wurde das Buch nun knapp 100 Jahre später beim WDR zum „Buch der Woche“ gekürt. Aus guten Gründen: „Der junge Seemann Gales bleibt in Antwerpen hängen, weil sein Schiff früher ausläuft, als er gedacht hatte, und möchte sich nun in die USA und damit nachhause durchkämpfen. Leider waren alle seine Papiere und vor allem sein Seemannsbuch an Bord. So kann er sich nicht ausweisen und auch auf keinem neuen Schiff anheuern… Der Roman erzählt so auch davon, wie nach dem Ersten Weltkrieg Grenzen willkürlich verschoben wurden, Nationen andere Gebiete erhielten und teilweise die Bürger durch das Raster fielen und so staatenlos wurden. Schutz- und rechtelos sind sie nun einem brutalen kapitalistischen System ausgeliefert“ (Christoph Ohrem). Bei  mir ist noch eine antiquarische Ausgabe des Buches erhältlich.

Trotz all der widrigen Umstände – bzw. gerade erst recht – wünsche ich alles Gute für das neue Jahr. Am besten gut organisiert (ja, organizing anarchy!) mit Hilfe von guten Kalendern. Wie dem 1996er Taschenkalender, der auch für 2024 gilt oder dem wunderbaren Wandkalender der Anarchistischen Bibliothek Wien, der im Grunde eine Biographie von Emma Goldman in Kalenderform darstellt.

Viva l´Anarchia – in diesem Sinne grüßt ganz Anti-Zeitenwende-mäßig

Der Ziegelbrenner

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