Dritter Einwurf des Ziegelbrenners

Das Leben, das Theater und der ganze Rest

Heute will ich zunächst mal auf die beachtenswerte Neuinszenierung von „Hair“ hinweisen, die nur noch bis zum 20. Juli am Bremer Theater gezeigt wird.

Als „Hair“ 1968 in New York uraufgeführt wurde, stand das Musical für das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Die Zeiten ändern sich, und so geht Regisseur Robert Lehniger hier mutig einen radikal anderen Weg, der sich nur lose an die historische Vorlage hält: von den Lebensreformern des „Monte Verita“ über die 60er-Jahre-Hippies bis zu den heutigen alternativen gesellschaftlichen Entwürfen (diese durch Videos eingespielt, bestehend aus Aussagen von Aktiven aus Bremen und Umgebung) spannt sich der Bogen dieses beeindruckenden, sparten- und genreübergreifenden Musik- und Tanztheater-Stückes. BesucherInnen erwartet durchaus ein anspruchsvolleres Stück (der örtliche Weser-Kurier ätzte in einer dummen Kritik über das „Proseminar mit Musik“), dass den Zuschauenden einiges abverlangt, an Aufmerksamkeit wie auch inhaltlich. So wird nicht erläutert, was es mit dem „Monte Verita“, diesem Laboratorium freigeistiger Sehnsüchte und Bewegungen, auf sich hatte, auch wie genau nun Veränderung aussehen könnte bleibt jenseits eines plakativen, auffordernden „Do it!“ unklar. Doch ist das Stück nicht überfrachtet – wer es nicht nachdenklich verlässt, dem ist eben nicht mehr zu helfen. Und: In Kooperation mit dem „Ziegelbrenner“ wird jede Hair-Vorstellung durch einen thematisch ausgerichteten Büchertisch ergänzt, der von Gusto Gräser, Hermann Hesse etc. über die musikalische Gegenkultur bis zu den sozialen Bewegungen der Gegenwart reicht (der Stand wird übrigens am 19.7. auch auf dem „Hair-Festival“ sein, siehe hierzu auch:

http://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/hair-festival.1015614). In mehrfacher Hinsicht gilt also: der Besuch lohnt sich!

Beim Monte Verita kommt einem natürlich sogleich Erich Mühsam in den Sinn, der seinem Spott über „Naturpropheten“ und „Körnerfresser“ in seinem 1905 verfassten Text „Ascona“ freien Lauf liess und sich hier etwa über die „Albernheiten Christusähnlicher Weltverbesserer“ auslässt. Erfrischend, wenn sich Mühsam – der die Zunft der Friseure ja selber nicht gerade bereicherte – über die Haarmähnen der frühen Hippies ausliess, „als wohnten ihrer Mähne magische Kräfte inne“.  Mühsam, der einen „kommunistischen Anarchismus“ propagierte, mahnte, dass die gesellschaftskritische Einbindung wichtig ist, wenn man „das richtige Leben im Falschen“ schon jetzt beginnen wolle: „Kommunistische Siedlungen, die nicht auf der Basis einer revolutionär-sozialistischen Tendenz erwachsen sind, werden stets Fiasko machen müssen“. Auch den neueren Alternativbewegungen und ihren Projekten, häufig zwischen Markt und Selbstvermarktung scheiternd bzw. nach wenigen Jahren oft schon nicht mehr als alternativer Gegenentwurf kenntlich, wäre dies ins Stammbuch zu schreiben. Vor 80 Jahren – am 10. Juli 1934 – wurde Mühsam, dem es um die „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ ging und der auch heute noch lesenswert ist, im Konzentrationslager Oranienburg von den Faschisten bestialisch ermordet.

Nicht der Ausverkauf der Ideen, jedoch der der Bücher geht weiter, da das Bücherlager immer noch zu voll ist: 50% Rabatt gibt es auf alle Titel auf der Homepage www.anares-buecher.de, und mit dem Suchbegriff „Erich Mühsam“ z.B. sind hier allein noch rund 60 Titel zu finden.

Verkauf solange Vorrat reicht!

Ich danke sehr für die zahlreichen Zuschriften in Zusammenhang mit den letzten Einwürfen. Ich möchte dennoch an dieser Stelle die Diskussion nicht weiterführen, da es ansonsten auf eine intensivere Debatte zu Michael Bakunin (an ihn erinnerten u.a. auch die „Zeit“ und die „Süddeutsche Zeitung“, Anarchismus ist die letzten Jahre offenbar etwas salonfähiger geworden) und zum Veganismus (Tenor einiger Zuschriften war dass ein Lifestyle-Veganismus zwar abzulehnen sei, ein konsequenter Anarchismus aber vegane Lebensweisen notwendig einschliessen müsse) hinauslaufen würde. Ich denke, dass diese Debatten etlichen LeserInnen zu themenspezifisch und diese Mailings vermutlich auch nicht der geeignete Ort dafür wären. Auf jeden Fall aber war dieses Feedback sehr erfreulich, zumal nachdem die vormaligen Anares-Newsletter meist eher schweigend zur Kenntnis genommen wurden.

Gerne können die Ziegelbrenner-Einwürfe natürlich auch weiterhin über Eure/ Ihre Maling-Listen weitergeleitet werden, und ich freue mich selbstverständlich weiterhin über reichhaltige Resonanz!

Jedoch möchte ich auf ein Missverständnis aus dem letzten Einwurf

eingehen: ich bin keineswegs der Ansicht, dass „mal eben so“ Herrschaftsverhältnisse per Willenserklärung aus der Welt geschafft werden können (einige schienen mich so zu verstehen). Das Primat der Verweigerung von Herrschaft verstehe ich als wichtigen Impuls, das uns umspannende vielschichtige Macht- und Herrschaftsgefüge offenzulegen und dadurch auch erst bekämpfen zu können. „Verweigerung von Herrschaft“ muss ein zentrales Ziel libertärer Bewegungen bleiben, dem es sich freilich durch Formen „zivilen Ungehorsams“ (oder wie immer man dies nennen will) erst Stück für Stück näherkommen lässt.

Denn selbst wenn es eine Revolution gäbe wären wir dadurch ja nicht von einem Tag auf den anderen die neuen, tollen Menschen, hätten vielmehr weiterhin z.B. ansozialisierte herrschaftsförmige Verhaltensweisen in und um uns. So elementar eine Staatskritik auch

bleibt: Die Macht ist nicht einfach ein Ort, sondern eine allgegenwärtige Struktur, die weithin von den Individuen verinnerlicht ist und unser Selbstbild und Agieren durchdringt – und eben darum so wirkungsmächtig ist. Selbst von ihr geprägt zu sein entbindet uns indessen nicht von der Notwendigkeit, Macht & Herrschaft kenntlich zu machen, zu kritisieren und diese Anmaßungen wo immer möglich aufzulösen.

Es grüßt Der Ziegelbrenner (ehem. Anares)

PS: am 24.7. findet in Bremen im Rahmen der „Kaffeehausgespräche im Alten Fundamt“ (Auf der Kuhlen 1a, 28203 Bremen) ein Gespräch zum Thema „Die offene Stadt – die Option Exit“ statt, bei der ich zu Gast sein werde. Mehr Infos zu dieser Reihe unter:

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