Vierzigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der Bibliodiversitäts-Einwurf

Geneigte Leserinnen und Leser, LeserInnen, Leser_innen, Leser+innen, Leser*innen,

nein, ich möchte hier nicht die große Gender-Debatte aufmachen, die Frage stellt sich aber doch: wie wollt ihr, wollen Sie angesprochen werden? Das Binnen-I scheint bereits überholt, die Leerstelle finde ich persönlich jedenfalls blöd, auch wenn die Idee sein mag, ebendiese produktiv auszufüllen, das Plus kommt positiv rüber und verdeutlicht, dass Diversität eben ein „Plus“ ist (um nicht zu sagen „ein Mehrwert“), ist aber noch wenig bekannt und irritierend; so entscheide ich mich vorerst für das Sternchen. Bin auf Feedback natürlich wie immer gespannt.

Neulich an der Außenwerbung einer Buchhandlung: offeriert werden „Bücher zur Unterhaltung“ und „Bücher für Schule und Beruf“. Da, denkt sich Der Ziegelbrenner, tut sich aber doch auch eine Leerstelle auf: wo bleiben da eigentlich die Bücher, die nicht nur Trost spenden, eine emotionale Beruhigungspille darstellen und Behaglichkeit verströmen wollen (jaja, in Krisenzeiten ist der regressive Rückzug angesagt…) oder zweckorientiert dem Vorankommen, der beständigen Selbstoptimierung dienen wollen? Bücher haben nicht nur eine Legitimation als Wellness- oder Karriereprogramm! Bücher sind die Software für´s Hirn, jawohl! Also: her mit den Büchern, die nicht bloß Unterhaltung bieten – die mitunter auch wohltuend sein kann -, sondern die das Hirn in Schwung bringen, die Fragen aufwerfen (oder beantworten), die Anregungen bieten, die auch mal aufregen, die Pfade aufzeigen für eine (dringend nötige, um des Überlebens der Menschheit willen) bessere Welt!

Allerdings: die verlegerische Vielfalt, die Bibliodiversität (ein Wort, dass das Rechtschreibprogramm bezeichnenderweise nicht kennt) ist stark gefährdet. Darauf weist auch eine von der Kulturstaatsministerin in Auftrag gegebene Studie eindringlich hin (https://www.bundesregierung.de/resource/blob/973862/1893662/e863acb30a6aacdf0f2577185eb3ac15/2021-bkm-verlagsstudie-data.pdf?download=1). Viel Arbeit also für den neuen Vorstand der Kurt-Wolff-Stiftung, die sich der Förderung eben jener Vielfalt verschrieben hat. Konkurrieren tut das Buch der Studie zufolge, wenig erstaunlich, vor allem mit digitalen Angeboten wie den immer intensiver genutzten Streaming-Diensten. Was wollen wir mit Medien, in denen sich nicht einmal Seiten mit Eselsohren markieren lassen (auch wenn E-Book-Reader dies durch digitale Lesezeichen zu ersetzen versuchen)? Wobei diese analogen Markierungen für die Bücher natürlich Frevel sind, eine wahre Eselei (Verzeihung, liebes Grautier), an der schon Freundschaften nach der Rückgabe verliehener Bücher zerbrachen. Der qua Lockdown erzwungene Rückzug ins Private hat immerhin ein Gutes: zu beobachten war eine Renaissance des Lesens, und das trotz Streaming & Co., nachdem der Buchwelt in den letzten Jahren zuvor noch Millionen Menschen als Lesende dauerhaft verloren gegangen waren. Gebt diesen Menschen Bücher, die nicht nur Zerstreuung befördern, gebt ihnen Bücher, die eine Persönlichkeitsbildung zum mündigen Menschen ermöglichen – gerade in der Pandemie ist davon wenig zu sehen! – Bücher für eine Bildung, die nicht allein ökonomisch instrumentalisiert ist

Wir erlebten nun Monate in einer Art kollektiver Festungshaft – das Zuhause als sicherer Ort, was für eine grandiose Absurdität – und in wortwörtlich kulturlosen Zeiten, wenigstens, was Kultur als öffentliche Angelegenheit betrifft. Gerade jetzt wäre es zumal für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk angesagt, den Bildungsauftrag ernst zu nehmen und dazu nicht zuletzt den Schatz der Printmedien deutlicher in das Bewusstsein zu rücken. Doch das Gegenteil ist der Fall: der NDR hat sein „Bücherjournal“ abgeschafft, der Hessische Rundfunk hat die Akzente seines Kulturprogramms deutlich von Wortbeiträgen zu noch mehr Musik verschoben, die Fernsehsender SWR und Bayerischer Rundfunk haben Literatursendungen gestrichen, und nun will auch noch der WDR seine täglichen Buchkritiken abschaffen – was dafür sorgen wird, dass noch mehr nur jene Bücher wahrgenommen werden, die ohnehin schon überall präsent sind. Die Schleifung der Literatur als öffentlich verhandeltem Thema macht Bücher zunehmend unsichtbar, sie ist ein Anschlag auf die Bibliodiversität und forciert einen intellektuellen Kahlschlag, der letztlich nur den Rechten dient. Es ist ein schwacher Trost, dass sich zumindest ein Teil des literarischen Interesses vor allem jüngerer Menschen nun in Literaturblogs verschiebt, von denen in den letzten Jahren etliche entstanden. Zwar drückt sich darin aus, dass Bücher gerade auch bei jüngeren Menschen weiterhin gegenüber Online-Texten als wertiger betrachtet und  als intensiveres, nachhaltigeres Leseerlebnis wahrgenommen werden (jedenfalls soweit noch gelesen wird). Doch so spannend viele der Blogbeiträge auch sein mögen, so wird dort ein eher szenig-nischiges Publikum angesprochen, das gezielt diese Blogs besucht, während die Radio- oder Fernsehsendungen immer noch ein breiteres Publikum erreichen.

Der Anschlag auf die Bibliodiversität hat viele Gesichter. Mitunter gehören die Verlage selbst dazu, die – auch im Wissenschaftsbereich – immer mehr dazu tendieren, Infotainment zu bieten, quasi der „Focus“ als Buch, hübsch bunt und oberflächlich, geschuldet wohl der Tatsache, dass bei zunehmender Trennung von Arbeit und Freizeit (beschleunigt durch die Corona-Maßnahmen) immer weniger Muße vorhanden ist, sich einmal in aller Ruhe konzentriert dem Buch zu widmen. So soll es locker und flockig zugehen – mit der permanenten nicht ausgesprochenen Drohung im Hintergrund, dass sich das Publikum sonst den digitalen Medien zuwende -, und so sehen die Bücher denn immer gleicher aus. Die Konzentration im Verlagsbereich – siehe z.B: Bertelsmann/ Penguin/ Simon & Schuster – tut ein Übriges. „Riesenkonzerne haben kein Interesse an entlegener Literatur“, so der Verleger des kleinen, aber feinen Weidle Verlages (https://www.deutschlandfunk.de/bertelsmann-kauft-simon-schuster-die-bibliodiversitaet-wird.700.de.html?dram:article_id=488209).

Auch der Konzentrationsprozess im Buchhandel gefährdet die Bibliodiversität – schon, weil die Buchhandelsketten wie Osiander/ Thalia/ Mayersche mit hohen Rabattforderungen nicht nur längerfristig die Preisbindung torpedieren, sondern auch, weil Verlage nur noch Bücher produzieren können, mit denen solche Rabatte dann auch umsetzbar sind. Für verlegerische Experimente ist da kein Raum mehr, denn bei kleineren Auflagen sind die gewünschten Margen unmöglich. Innovation war gestern. Auch die seit 2020 geltende massive Portoerhöhung für den Versand von Büchern, bei gleichzeitig schlechteren Rahmenbedingungen -etwa einer neuen Maximalhöhe – gefährdet die Bibliodiversität. Zwar ließ mir die Kulturstaatsministerin ausrichten, dass die Änderungen „dem Ziel widersprechen, mit günstigen Versandkosten für Bücher die literarische Vielfalt und den Zugang zum Kulturgut Buch zu fördern“. Die Hoffnung eines leitenden Referenten beim Kulturministerium, die „Post AG werde am Ende ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, ja Verpflichtung für die Kultur gerecht“ hat sich jedenfalls nicht erfüllt.

(Ungeachtet dieser Anschläge auf die Bibliodiversität: im Sortiment des Ziegelbrenners fanden sich schon immer – und finden sich immer noch – gerade die Publikationen kleiner, unabhängiger Verlage. Schaut doch mal rein: www.ziegelbrenner.com! – Soweit der Werbeblock!)

Wir werden aufpassen müssen, dass der räumlichen, faktischen Festungshaft nicht eine mentale Festungshaft folgt. Wenn es für diese Mahnung nicht schon zu spät ist. Antifas, die die Polizei dabei unterstützen, Kundgebungen von vermeintlichen oder realen Rechten zu unterbinden (in der Bremer Linkspartei reicht derweil schon der Hinweis von einzelnen Parteimitgliedern auf die Einschränkung von Grundrechten, um diese in die Nähe der AfD zu rücken und mit Parteiausschluss zu drohen); Rechte, die aus durchsichtigsten Motiven nach Freiheit rufen (nur dort lassen sich noch Stimmen fangen, nicht mit dem Ruf nach Autorität, das besorgen die Linken eben schon selbst); Menschen, die ihren Kids bereits Todesängste und ein schlechtes Gewissen einhämmern („sonst stirbt Omi wegen dir!“); einstige Weggefährt*innen – in der Pandemie trennen sich Freundschaften -, die nach noch mehr und härteren Lockdowns förmlich betteln (und global dafür Millionen Tote als „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen); ein „linksliberales“ Feuilleton, das jeden Hinweis darauf, dass Bill Gates mit Pharmaprodukten Geld verdienen will (ein im Kapitalismus natürlich vollkommen unwahrscheinliches und ungeheuerliches Vorhaben…), bereits als Verschwörungsdenken denunziert: dies alles zeigt, wie sehr die Verhältnisse durcheinander geraten und hysterisiert sind und wie schwer es noch Stimmen von Vernunft und Emanzipation haben. Dabei wäre es sinnvoll, sich auf das vorzubereiten, was noch kommen wird. Wie wollen wir im Zeitalter der Pandemien, das eindeutig angebrochen ist, (über-)leben? „Corona ist nichts gegen das, was noch wartet“, äußerte der Biologe Josef Settele, und dies ist kein panischer Alarmismus. Apropos Panik: die Panik, erzeugt im Frühjahr 2020 als Drehbuch des Bundesinnenministeriums – nein, das ist keine Verschwörungstheorie! – ist der schlechteste Modus, um den Herausforderungen zu begegnen. Vielleicht verstehen das irgendwann sogar Linke. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Die Pandemie griff in einem Ausmaß, das totalitärste Regime nicht besser hätten ersinnen können, in den Alltag ein, und sie veränderte selbst das, was gelesen wird. Es ist nicht das Schlechteste, dass ein über 60 Jahre altes Buch nun zum Bestseller wurde: „Die Pest“ von Albert Camus. Ansonsten allerdings ist bei den Neuerscheinungen der letzten Monate eine deutliche Wendung nach Innen zu bemerken, inhaltlich belanglose Bücher, die, siehe die Einleitung dieses Einwurfs, bestenfalls Behaglichkeit und Wohlgefühl verströmen wollen, wenn man diesen faden Werken denn etwas noch vergleichsweise Positives nachsagen wollte. Und es ist schon selten pervers, wenn Kids nun in Lockdowns Bücher über Corona (und das „richtige Verhalten“, schon wegen Omi!) lesen sollten. So wurden selbst die Kleinsten in einen Alptraum katapultiert, der künftige Therapeut*ìnnen-Generationen trefflich ernähren wird – dumm nur für jene, die sich solche Therapien nicht werden leisten können. Schon die PISA-Studie von 2018 zeigte, dass nur eine*r von zehn 15jährigen in Deutschland den Inhalt eines Textes kompetent bewerten und zwischen Fakten und Meinung unterscheiden kann, mit einem deutlichen Gefälle bei den sozialen Schichten übrigens, in einem Land mit derart selektiven Schul- und Sozialsystem wenig erstaunlich. Eine Förderung der Lesekompetenz jenseits der Corona-Blase wäre also dringend erforderlich, nicht zuletzt der Pandemie-Resilienz wegen.

Lesen tut also not! Umso erfreulicher: es gibt sie noch, die guten Buchläden. Die kleineren, Inhaber*innengeführten Läden sind bisher zumeist sogar noch vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Davon, wie sich nun die Städte, zumal die Innenstädte und klassischen Einkaufsstraßen, entwickeln, wird abhängen, wie es weitergeht. Denn in den letzten 12, 15 Monaten haben sich Trends verstärkt, die schon zuvor sichtbar waren, etwa die Digitalisierung des Kaufverhaltens.

In Halle an der Saale lockt nun in innenstädtischer Lage die Diversity-Buchhandlung Kohsie (Kleine Marktstraße 7) mit einem handverlesenen, feinen Sortiment. Die Bibliodiversität ist hier praktisch konzeptprägend. Keine Geringere als die Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs rief vor ein paar Monaten nach einer vielfältigen Literatur jenseits „weißer“ Normierung. In diesem Sinn betont Kohsie, Literaur aus allen Kontinenten anbieten zu wollen. Ich kenne die Buchhandlung noch nicht, wünsche aber alles Gute für dieses mutige Vorhaben!

Der Ziegelbrenner ist ja in erster Linie Antiquar, nicht Neubuchhändler. Da macht es Sinn, auch mal auf ein Antiquariat hinzuweisen. Zumal so etwas ja eine selten werdende Geschäftsform ist. Das Antiquariat Solder (Frauenstraße 49/ 50) in Münster leistet sich noch eine solche öffentliche Präsenz. Ich bin gespannt auf das, was der neu begonnene Podcast so bringen wird. Der Trailer wird übrigens von Leonard Lansink, Darsteller des notorisch bankrotten Antiquars und nebenberuflichen Detektivs Wilsberg aus der gleichnamigen ZDF-Krimiserie, gesprochen.

Ebenfalls mehr Antiquariat als Neubuchladen ist der Internationalismus Buchladen in Hannover (Engelbosteler Damm 4), der einst die Studierenden der Universität mit Lektüre versorgte, als man im Studium noch die Zeit hatte, interessengeleitet zu lesen und nicht lediglich prüfungsrelevantes lesen musste. Der Packpapier Verlag würdigte dieses Unikat von Laden mit den Worten, dass dort Bücher gestrandet seien, sie seien „Asylsuchende, denn Dinge, die Zeit brauchen, sind unerwünscht in einer Welt flackernder Monitore“, und so ist eben auch dieser Laden selbst eigentümlich aus der Zeit gefallen.

Manchmal immerhin kann der Gang in eine Buchhandlung gar lebensprägend werden. „Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich angefangen, in New Yorker Antiquariate zu gehen. Viele von ihnen wurden von Anarchisten betrieben, die aus Spanien stammten. Deshalb erschien es mir damals ganz natürlich, Anarchist zu sein“, so der Linguist und politische Aktivist Noam Chomsky (https://www.zeit.de/campus/2011/04/sprechstunde-chomsky).

Und, was ist eure Lieblingsbuchhandlung?

Der letzte Einwurf liegt schon wieder ein paar Monate zurück. Monate, in denen ich u.a. ein neues Buch schrieb, das eine linke Kritik an den Corona-Diskursen und -Maßnahmen darstellte – ein Buch, das noch keinen Verlag fand. Monate, die auch von Umzügen geprägt waren. Seither gibt es eine neue Büroadresse, auch wenn ich geographisch die namentliche Wunschadresse um gut zwei Kilometer Luftlinie verpasst habe. Dies wäre ja eigentlich die zwischen Steinsetzerstraße (nach den Pflasterern – ein fast reiner Männerberuf – der Ziegelsteine benannt) und Friedrich-Engels-Straße gelegene Ziegelbrennerstraße. Man kann eben nicht alles haben – es handelt sich bei dieser Straße um eine eher öde Gewerbestraße (was wiederum passt), während hier nun, unter nichtssagendem Straßennamen, das persönliche wie bauliche Umfeld eindeutig besser passt.

Gerade in diesen Zeiten möchte ich zurufen: lebt & lest! Und bleibt vor allem lebendig und beweglich, verweigert euch der Erstarrung. Bleibt widerständig gegenüber der Macht, die alles Mögliche will, der an unserer Gesundheit aber nur insofern liegt als dass sie ein effizientes Investment sein möge – auch wenn sich viele haben dumm machen lassen in letzter Zeit und nun anderes zu glauben scheinen.

In diesem Sinne grüßt

Der Ziegelbrenner