Sechsunddreißigster Einwurf des Ziegelbrenners

Der „Buch und Kultur in der Corona-Ära“ – Einwurf

Liebe Freundinnen und Freunde des gedruckten Buches,

gleich zu Beginn nochmal der Hinweis auf meine Gutschein-Aktion: ab 20 Euro Einkaufswert gibt es einen von 999 5-Euro-Gutscheinen (solange Vorrat reicht), siehe https://www.ziegelbrenner.com/

Viel geschehen ist seit dem letzten Einwurf, den ich Mitte März verschickte, also ziemlich am Anfang des europäischen Corona-Regimes also. Ich habe an einer kritischen, linken Sichtung dieses Regimes mitgeschrieben, siehe https://www.ziegelbrenner.com/produkt/corona-und-die-demokratie-eine-linke-kritik/. Der Redaktionsschluss des Buches war am 2. Mai, seither ist wiederum einiges passiert, viele unserer Thesen finden seither eine Bestätigung. So wird von immer mehr MedizinerInnen der massive Lockdown kritisiert und als reine Panikreaktion bezeichnet – zugleich hat dieser Lockdown die Verwundbarkeit des Kapitalismus vor Augen geführt, eines Wirtschaftssystems, dass uns tagtäglich erpresst, mehr als nötig zu produzieren und zu kaufen, da sonst Arbeitslosigkeit und Elend drohen. Wie schon im Buch geschrieben, böte Corona insofern auch Chancen einer gesellschaftlichen Transformation. Zumal in den letzten zwei Monaten vielfach bestätigt wurde, im Buch zu lesen ist: Corona trifft vor allem ökonomisch abgehängte Bevölkerungsschichten, und Corona zeigt, wie nötig ein gutes, solides und nicht-kapitalistisches Gesundheits- und Sozialwesen ist. Wie elementar letzteres Wäre, zeigt sich daran, dass in den Ländern die Letalität am höchsten ist, in denen die gesundheitliche Versorgung – insbesondere mit notfallmedizinischer Infrastruktur – am schlechtesten ist, siehe z.B. USA, Brasilien, Italien, Spanien – und, ja, auch Schweden, mit seiner europaweit niedrigsten Quote von Notfallbetten.

Trotz klarer Faktenlage ist seit Erscheinen des Buches die linke Selbstaufgabe weiterhin vorangeschritten, viele „Linke“ lassen sich weiter von Angst und Panik reagieren, flehen den Staat an, im irrigen Glauben, es ginge diesem tatsächlich um ihre Gesundheit – dabei stand diese keinen Tag im Fokus, es ging schlicht um die Rettung des Kapitalismus, weshalb ja z.B. auch in riskantesten Bereichen zumeist weitergearbeitet werden musste. Die Fleischindustrie ist da nur die Spitze des Eisberges. Doch Corona hat die Denkfähigkeit offenkundig massiv angegriffen. „Linke“ rufen täglich nach stärkerer Polizeipräsenz, als ob die, strukturell gewaltförmig und rassistisch, Teil der Lösung wäre, wo sie doch Teil des Problems ist. Sie rufen nach konsequenterem Durchgreifen, mehr Überwachung, der Corona-App – als ob diese, auch wenn noch freiwillig und datenschutzkonform, nicht Türöffner für massivste Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen wäre. Statt nun den Staat als vermeintlichen Gesundheitsgaranten neu zu entdecken und lieben zu lernen, müsste es darum gehen, gesellschaftliche Alternativen voranzubringen, die in unserem Buch beschrieben oder zumindest angedeutet werden. Wenn die Krise nicht als Chance für Änderungen genutzt wird, werden wir umsonst gelitten haben, so der Schriftsteller Ilija Trojanow (https://taz.de/Lehren-aus-der-Coronakrise/!5678805/). Tatsächlich liegen, wie Trojanow mal zugespitzt formulierte, zwischen Utopie und Dystopie gerade nur 1,5 Meter.

Doch kritische Stimmen bleiben selten – entsprechend wurde unser Buch auch in den Medien weitgehend ignoriert -, und so wurde das Feld den Rechten überlassen, die es dankbar nutzen und sich nun, Ironie der Geschichte, als letzte wahre Hüter der Freiheit darstellen. Jenes Gut, welches im Zeitalter der Pandemie am kostbarsten wäre, wurde in den vergangenen Monaten noch seltener: die Vernunft. Feuerwehrmaßnahmen sollen nun das Allerheiligste des Kapitalismus wieder ankurbeln, den Konsum. Dafür wird eine temporäre Mehrwertsteuer-Senkung beschlossen, die unterm Strich mehr Aufwand als Nutzen bringen wird. Profitieren werden nur die großen Onlinehändler wie Amazon, die schon durch den Lockdown Umsatzzuwächse erzielten und die nun nochmals ihre Umsätze und Margen steigen werden. Nebenbei: wenn die Innenstädte künftig nicht vollends aussterben sollen, wäre eher über eine differenzierte Steuer nachzudenken, die Onlineportale höher besteuert.

Als Signal in eine andere Richtung kann man die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Ökonom Amartya Sen werten. Dieser plädiert zwar nicht auf eine Abschaffung des Kapitalismus, aber für eine gerechtere Verteilung der Ressourcen. Insgesamt hat sich die Buchbranche im Übrigen als erstaunlich zählebig erwiesen und die letzten Monate erstmal überwiegend mit einem blauen Auge überstanden, aufgrund einer bemerkenswert treuen Klientel, aber auch aufgrund kreativer Umgangsformen mit den Einschränkungen. So gab es persönliche Telefonberatungen sowie virtuelle Beratungen am Bücherregal mit Video-Chats, Lieferdienste per Fahrradkurier, Kooperationen mit benachbarten Handwerksbetrieben als Abholorte, tägliche Lesetipps per mail und in den sozialen Medien etc. Aufgrund geschlossener Restaurants stieg die Nachfragen nach Kochbüchern (während Reisebücher, wen wundert´s, um über 90% einbrachen). Zeit genug zum Lesen hatten viele ja jetzt – die Ausrede, man wolle ja eigentlich lesen, habe nur keine Zeit, galt zumindest temporär nicht mehr. Dabei ist es allerdings der Branche gegenüber der Politik nicht gelungen, Bücher als täglichen Grundbedarf wenigstens mit Nägeln, Schrauben, Tabak und Benzin gleichzustellen – die wochenlange Schließung der Buchläden war unnötig und für viele ein existenzbedrohender Kraftakt.

„Der Mensch lebt nicht von Brot und Klopapier allein, er braucht auch geistige Nahrung!“, unterstrich die SchriftstellerInnenvereinigung PEN ihre Forderung nach umgehender Öffnung der Buchläden. Die große mediale Aufmerksamkeit für den Buchhandel auch während der Schließungen ist für die Branche auf jeden Fall sehr positiv gewesen. Die Wiedereröffnungen nach dem Lockdown begannen nun insgesamt vielversprechend, trotz weiterhin vorhandener Einlassbeschränkungen und Hygieneregeln. Vielleicht hat die Coronakrise gar dazu beigetragen, das Buch wieder stärker in die Wahrnehmung zu rücken? Erfreulicherweise schlug vor allem die Stunde der kleinen Buchläden „um die Ecke“, die eine höhere KundInnen-Bindung aufweisen – ein Umsatzplus machten zwar auch sie nicht in den letzten Monaten, aber doch teilweise ein kleineres Minus als die größeren Läden. Hier profitierte man, im Gegensatz von den Verlagen, in den Buchhandlungen sogar noch von der temporären Weigerung des Internetriesen Amazon, der zeitweilig keine Bücher mehr kaufte, um in seinen Lagern Platz für lukrativere Güter wie Klopapier, Desinfektionsmittel und Alkohol zu haben. Der arme, anscheinend überlastete Konzern (der ohnehin reichste Mensch der Welt, Amazon-Inhaber Bezos, wurde in der zweiten Märzhälfte Corona sei Dank abermals 10 Milliarden Euro reicher) – entlasten wir doch Amazon! Hoffen wir, dass einige Menschen nun längerfristig die Nase voll haben von Amazon! Und nicht nur das: das sie auch generell wieder verstärkt stationäre Ladengeschäfte nutzen.

So kann sich die Branche vordergründig selbst loben – eine entscheidende Chance aber wurde verpasst: die umsatzschwachen Monate zu nutzen, um sich zusammenzutun und gemeinsam Amazon Paroli zu bieten. Amazon hat gerade deutlich vor Augen geführt, dass nicht in diesem Allesverkäufer die Zukunft des Buchmarktes liegt, sondern diese Branche braucht eigenständige Versandoptionen. Dramatisch bleibt die Situation zudem für viele Kulturschaffende, deren Notlage durch Bundeshilfen derzeit nicht annähernd abgefedert ist – der Staat hungert die kulturell Kreativen vielmehr aus, moniert die Vorsitzende des Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS), Lena Falkenhagen. „Die arme Poetin ist gesellschaftliche Realität geworden“, so Falkenhagen. Auch die Rettungsmaßnahmen für die Konzertszene sind „ein kulturpolitisches Armutszeugnis“, so der Konzertveranstalter Berthold Seliger. Unterstützt würden durch das von der Regierungskoalition durchgeboxte Paket lediglich die Veranstaltungs-Großkonzerne – detaillierte Anträge der anderen Parteien für konkrete Hilfen wurden ignoriert (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1136792.corona-und-kultur-diese-rettung-ist-ein-armutszeugnis.html).

Viele Kulturschaffende versuchen, sich mit dem Aufbau eigener Netzwerke zu behelfen, so die Band „Grenzgänger“, in deren Werk nicht zuletzt literarische Texte vertont werden ( https://die-grenzgänger.de/cd-kategorie/netzwerk/). „Kultur ist zwar nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts“, so eine Initiative (https://www.kulturerhalten-aktion.de/index.html), die sich für spürbare Soforthilfen als Basis einer weiterhin lebendigen Kulturlandschaft einsetzt. Folgen hat die Coronakrise auch für die Printmedien: da es monatelang keine Veranstaltungen gab (nicht systemrelevant, im Gegensatz zu Autokonzernen, Baumärkten, Fluglinien, Fleischkonzernen…), brechen auch die entsprechenden Anzeigen weg, was für engagierte Kulturmagazine wie die Musikzeitschrift „Folker“ verheerend ist (https://www.folker.de/Artikel.php?ausgabe=202003&art=Editorial). Die gegenwärtige Zeit der (Wieder-)Öffnungen ist ohnehin nicht nur in epidemiologischer Hinsicht absurd: so sind Gaststätten (und auch Buchläden) deutlich vor Bibliotheken, auch vor den Uni-Bibliotheken, geöffnet worden – Pech für diejenigen, die kein Geld für Bücher haben. Und Forschung findet höchstens noch virtuell statt. Und bei alledem ist völlig offen, was geschieht, wenn es zu einem weiteren Lockdown kommen sollte – die Rücklagen bei unabhängigen Verlagen, Buchhandlungen und Kulturschaffenden sind jedenfalls aufgebraucht. So ist, trotz derzeitigem Aufatmen und dem Zusammenrücken der Buchbranche in den letzten Wochen, die Bibliodiversität, wie auch die kulturelle Vielfalt insgesamt, weiterhin gefährdet.

„Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler“, so Philippe Dijan. Ja, Bücher sind, wie ich schon im letzten Einwurf schrieb, die Medizin für einen klaren Kopf. Nebenwirkungen bei Überdosierung sind nicht bekannt. Dabei müssen sie nicht beruhigen, sie können in unruhigen Zeiten auch im positiven Sinn aufwühlen und jene produktive Wut entfachen, die nötig ist, um für bessere Lebensumstände zu kämpfen. Und für Veränderungen zu kämpfen scheint mir allemal gesünder, als die herrschenden Zumutungen nur zu ertragen.

Bei alledem es gibt sie noch, die guten Buchläden. Nutzt sie, damit sie weiter erhalten bleiben. Übrigens, was ist eure Lieblingsbuchhandlung?

Weitere Nachrichten in Kürze:

Unterstützt die Anarchistische Bibliothek Wien, die durch den Erwerb einer Immobilie sich nun langfristig sichern konnte, beim Umbau der neuen Räumlichkeiten: https://www.startnext.com/a-bib-wien.

Das anarchistische Dokumentation AnArchiv, dass auf die Sammlung der verstorbenen Horst Stowasser zurückgeht und nun dessen Arbeit weiterführen möchte, freut sich über jedwede Unterstützung, z.B. über Materialspenden: http://anarchiv.de/unterstuetzen/

Auch der legendäre Club „SO 36“ in Berlin ist von der Coronakrise bedroht. Die Berliner Weinhandlung Suff (!) hat sich dem Motto „Schöner Trinken“ verschrieben und für das SO 36 ein leckeres Soli-Paket zusammengeschnürt: https://shop.suffberlin.de/products/schoner-trinken-so36-soli-paket

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten: die griechische Regierung hat die Coronakrise genutzt, um der Kooperative Vio.Me den Strom abzustellen – o.k., das war jetzt noch nicht positiv. Eine begeisternde Spendenbereitschaft hat es ermöglicht, dass Vio.Me sich jetzt mit einem eigenen Generator unabhängiger machen konnte: http://gskk.org/

Übrigens: warum nicht bei der nächsten Ziegelbrenner- Buchbestellung gleich mal 1, 2 Päckchen Espresso mitbestellen? Siehe https://www.ziegelbrenner.com/produkt/espresso-crema-intergalactica/

Lokale Shops, kulturelle Initiativen etc. entdecken und unterstützen – das Projekt „Das andere Berlin – Wegweiser durch das offene, alternative, andere Berlin“ macht das zumindest für Berlin (beispielhaft) möglich: https://dasandereberlin.de/

Unlängst verstarb der Berner Antiquar Jaime Romagosa, der Pascal Mercier zu seinem wunderbaren Buch „Nachtzug nach Lissabon“ inspirierte. Als Buch ist es nicht mehr in meinem Bestand, ich habe es jedoch noch als Hörbuch: https://www.ziegelbrenner.com/produkt/nachtzug-nach-lissabon/

Der Deutsche Verlagspreis mag eine ehrenhafte Intention haben, die Vergabepraxis ist allerdings fragwürdig. Dies wurde schon mehrfach kritisiert, jüngst hat Gunnar Schedel vom Alibri Verlag die Kritik in seinem Blog gut zusammengefasst: http://www.alibri-blog.de/?p=2222#more-2222

Zum Schluss komme ich nochmal auf Corona zurück: schön, dass Olaf Arndt (Kunstkollektiv BBM) die Zeitschrift „Die Aktion“ wiederaufleben lassen will (zunächst virtuell), die mit dem Tod von Verleger Lutz Schulenburg (Edition Nautilus) eingestellt wurde. Und ehrenvoll für mich, dass ich mit meinem Text „Geschlossene Gesellschaft“ an der Seite von Crass-Musiker Penny Rimbaud stehe: http://olaf.bbm.de/nr-3-gerald-grueneklee

Lebt & lest schön!

Es grüßt

Der Ziegelbrenner